Sueße Prophezeiung
drüben«, sagte jemand und die Pferde taten einige Schritte.
Sie stiegen an einem Platz ab, der mit welkem Laub bedeckt war. Marcus reichte sie jemandem, ehe er selbst mit einem Sprung ächzend absaß.
Avalon wurde mit den Füßen auf dem Boden abgesetzt. Dann spürte sie die kalte Glätte einer Klinge zwischen ihren Knöcheln, die die Seile durchschnitt. Endlich wurde ihr auch der Sack abgezogen.
Sie versuchte, den Staub aus ihren Augen zu blinzeln, wobei sie nicht vergaß, die Hände zusammenzuhalten. Marcus stand genau vor ihr. Er fing an, den Knoten hinten an ihrem Kopf zu lösen, der verhindert hatte, dass der Knebel sich verschob. Seiner Miene war keine Regung zu entnehmen.
Jetzt fiel der Knebel heraus. Trotz ihres trockenen Mundes versuchte Avalon zu schlucken und berührte mit der Zunge ihre wund gescheuerten Lippen. Sie sah, dass bei dieser Bewegung etwas in Marcus zum Leben erwachte. Fast widerwillig folgte sein Blick ihrer Zunge, ehe sein Gesicht wieder völlig ausdruckslos wurde. Das erste Mal spürte sie den heißen Strahl echter Angst.
Sie stand mitten im Kreis von Männern, von denen die meisten einen Tartan trugen. Es waren letztendlich doch weniger als dreißig, die sie alle anstarrten – das zerknitterte Kleid mit den Amethysten, das Haar, das sich aus der Haube gelöst hatte –, und sie starrte zurück. Bei dem Gefühl, das in ihre Füße zurückkehrte, wäre sie beinahe zusammengezuckt.
Bestürzt stellte sie fest, dass sich in der Nähe der Bäume eine Herde frischer Pferde befand. Frische Pferde. Das bedeutete, dass sie den ganzen Tag reiten konnten.
»Lady Avalon«, sagte Marcus schließlich, während er seinen Blick von ihr löste und zu seinen Männern schweifen ließ. »Hier ist Eure neue Familie!«
Sie riss sich zusammen und hob die Augenbrauen, als ob es sie nur am Rande interessierte, was er ihr da eröffnete. »Ich glaube, Ihr irrt Euch.«
Dafür erntete sie einige Lacher. Die Männer stießen sich mit den Ellbogen in die Seiten. Marcus schloss sich ihrer Heiterkeit nicht an. Sein Blick wanderte über sie hin, und seine Augen verloren nichts von ihrer Kühle.
»Keineswegs«, widersprach er. »Avalon d’Farouche trägt den Kincardine-Fluch.« Er zeigte mit einer kurzen Handbewegung auf ihr Haar und ihr Gesicht. »Unverkennbar seid Ihr Lady Avalon. Und ich bin Euer Ehemann.«
»Mir ist klar, wer ich bin, Sir, und auch, wer Ihr seid. Aber Ihr irrt Euch hinsichtlich unseres Verwandtschaftsgrades. Ich bin eine Braut Christi.«
Stille senkte sich über die Anwesenden. Nach einem langen Moment des Schweigens begann Marcus zu lachen.
Es war ein tiefer, beunruhigender Klang, der ihren Körper mit einer Gänsehaut überzog.
»Oh, das glaube ich nicht«, winkte er ab, während er sie mit seinem ungezähmten Lächeln bedachte.
Sie grub ihre Nägel in ihre Handflächen. Allmählich wurde es heller, sodass sie sein Gesicht das erste Mal in aller Deutlichkeit vor sich sah.
Gütiger Himmel, er ähnelte überhaupt nicht seinem Vater. Er sah gut und markant aus, groß, wo Hanoch nur kräftig, sehnig und stark, wo Hanoch nur bullig gewesen war. Ein Adonis im Vergleich zu einem Minotaurus!
Bei Tageslicht nahmen seine Augen einen ganz hellen Blauton an. Sie blickten eisig, und schwarze Wimpern umrahmten sie. Seine Lippen waren sinnlich, sein Kinn fest, seine Nase gerade und unversehrt. Natürlich hatte sie ihn nicht erkannt. Kein einziges Mal während all ihrer Jahre in Schottland hatte irgendjemand sie darauf hingewiesen, dass sie ein Prachtexemplar von Gemahl erwartete.
Auch er nahm sie genau in Augenschein. Immer noch lag ein Schimmer jenes Lächelns auf seinen Lippen. Trotzdem strahlte er keinerlei Wärme aus, nur Kälte und unbeugsamen Willen. Vielleicht war er letztendlich doch nicht so viel anders als sein Vater.
»Es stimmt«, log sie, während sie gegen das Gefühl ankämpfte zu ertrinken. »Ich bin eine Nonne. Meine Gelübde habe ich in Gatting abgelegt.«
»Wirklich?« Der Klang seiner Stimme gab nichts preis. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte.
Deshalb kam es für sie völlig überraschend, als er sie an sich zog, fest hielt und eine Hand in ihre üppige Mähne schob, damit sie seinem Kuss nicht entfliehen konnte.
Sein Körper war unnachgiebig und hart, aber seine Lippen zeugten von großer Erfahrung, als er damit ihre bedeckte, ehe sie auch nur noch einmal Luft holen konnte. Strafend rieb er mit seinem Mund über ihren. Sie schmeckte das warme und salzige Blut
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