Süße Rache: Roman (German Edition)
konnte, selbst wenn es moralisch richtig gewesen wäre. Dann erkannte sie, dass sie praktisch nichts über ihn wusste und darum der Polizei nichts Belastendes verraten konnte, dass alles, was sie erfahren hatte, sich im Ausland zugetragen hatte. Sie wusste nicht einmal, in welchem Land, in welchen Ländern er gewesen war, obwohl die Behörden das bestimmt herausfinden konnten, wenn sie einen Blick in seinen Pass warfen, vorausgesetzt, er besaß nur einen einzigen Pass, was jedoch nicht anzunehmen war. Schließlich lebte er davon, unentdeckt Grenzen zu überschreiten.
Er hatte sich eine todsichere Tarnung zugelegt, erkannte sie, jedenfalls soweit es die Polizeibehörden in diesem Land betraf. Er würde nicht verhaftet, weil ihm kein bekanntes Verbrechen zur Last gelegt werden konnte. Selbst wenn Andie etwas über ihn gewusst hätte, hätte die Polizei höchstwahrscheinlich keinen Beweis dafür finden können, dass er zum betreffenden Zeitpunkt außer Landes gewesen war.
Ihn anzuzeigen würde rein gar nichts bringen. Als sie das erkannte, stiegen ihr vor Erleichterung Tränen in die Augen. Sie wollte ihn nicht anzeigen; er sollte nicht bis an sein Lebensende im Gefängnis sitzen müssen. Vielleicht wäre das richtig gewesen, aber sie war keine Heilige, und sie hätte dafür ihr Herz abtöten müssen.
Obwohl Mord eigentlich das allerschlimmste Tabu darstellen sollte, schien er außerdem alles in allem viel anständiger zu sein als der menschliche Abschaum, mit dem
sich ihre Mutter eingelassen hatte. Was war moralisch verwerflicher, Mord oder Missbrauch?
Laut Gesetz war es Mord. Aber verflucht noch mal, es gab sehr wohl Menschen, die es nicht verdient hatten zu leben, und es war anzunehmen, dass ein Drogenbaron, der Simon anheuerte, höchstwahrscheinlich einen konkurrierenden Drogenbaron aus dem Weg räumen wollte. Wie konnte so etwas schlecht sein? War es nicht ein Dienst an der Gesellschaft, die Anzahl dieser Kriminellen zu dezimieren? War Simon böse, weil er gegen Bezahlung tötete? Bestimmt war nicht allein das Motiv entscheidend, denn es gab eine Menge Menschen, die in bester Absicht unendlichen Schaden anrichteten.
Offenbar ließ sich diese Frage nicht in einer Stunde klären, und sie war zu müde, um alle Aspekte zu durchdenken. Das Gute daran war, dass sie nicht sofort aktiv werden musste. Sie brauchte noch nicht zu entscheiden, was sie mit Simon machen würde, und sie brauchte nichts gegen Rafael zu unternehmen. Sie konnte in aller Ruhe -
Ihre Gedanken legten eine Vollbremsung hin. Rafael.
War es wirklich in Ordnung, dass sie ihn weiter seine Geschäfte treiben ließ, dass sie ihn Drogen importieren ließ, mit denen er Menschenleben vernichtete, Drogen, die süchtig machten, die töteten und ihn dabei unermesslich reich machten – nur weil sie jetzt in Sicherheit war? War sie, nur weil ihr keine Gefahr mehr drohte, nicht mehr verpflichtet, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Rafaels Geschäfte zu durchkreuzen?
Nein. Sie spürte die Antwort augenblicklich und nachdrücklich in ihrer Magengrube. Sie war dazu eher verpflichtet als jeder andere, weil sie von seinem Geld gelebt und davon profitiert hatte und weil sie in der einzigartigen Position war, ihn nicht nur genau zu kennen, sondern
weil sie auch der einzige Mensch auf dieser Welt war, der ihn allein durch seine Anwesenheit verleiten konnte, eine Dummheit zu begehen, eine Dummheit, die den Cops einen handfesten Anklagegrund liefern würde.
Sie musste es tun. So riskant es auch sein mochte, sie musste es einfach tun.
Ihre Gedanken kehrten zu Simon zurück. Er fühlte sich verpflichtet, über sie zu wachen, womit er ihre Pläne, Rafael auf die Zehen zu steigen, vereiteln konnte. Das hier ging Simon nichts an; dies war allein ihre Schuldigkeit, ihre Verpflichtung. Wie Simon die Situation einschätzen würde, stand auf einem ganz anderen Blatt.
Würde er versuchen, sie aufzuhalten? Zweifellos. Schlimmer noch, sie hatte den Verdacht, dass ihm gewöhnlich alles gelang, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Sie brauchte ihre Phantasie nicht besonders anzustrengen, um sich auszumalen, wie er sie irgendwo gefangen hielt oder sie aus dem Land schaffte, nur um sie von Rafael fernzuhalten.
Dasselbe Lied, nur eine andere Strophe: Sie musste ihn abschütteln.
Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass sie nicht davonlaufen würde, würde er seine Überwachung lockern, überlegte sie. Vielleicht nicht gleich; er war gerissen und misstrauisch und
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