Süße Rache: Roman (German Edition)
gefolgt von einem Blutsturz, der ihre Kleider durchtränkt hatte. Sie hatte kein Auto, sie hatte nicht einmal einen Führerschein, weil sie erst in einem Monat sechzehn wurde, und sie war ganz allein zu Hause. Bis sie ins Krankenhaus kam, war es bereits zu spät. Ihr Baby hatte nie einen Namen bekommen.
Die Erinnerungen trieben durch ihren Kopf und wirkten dabei so lebendig, als würde sie alles von Neuem durchleben, nur wusste sie, als sie diesmal den winzigen Körper sah, dass sie bald im Nichts des Todes wieder vereint wären. Bald, mein Liebling, versprach sie ihm.
Ihr Blickfeld war verzerrt, neblig und dunkel, doch dann stand plötzlich ein Gesicht vor ihr, ein bekanntes Gesicht. Sie sah die opalfarbenen dunklen Augen, die Traum und Albtraum zugleich waren, sie sah die kräftigen Züge, die Lippen, die so weich und zärtlich sein konnten. Sie hatte so schreckliche Angst vor ihm gehabt, aber jetzt nicht mehr. Jetzt hätte sie zu gern die Hand gehoben und an sein Kinn gelegt, die Stoppeln seines Bartes gespürt und die Kühle seiner Haut über seinen warmen Muskeln, doch ihr Arm wollte nicht gehorchen. Nichts wollte ihr gehorchen.
War er wirklich da oder sah sie ihn so, wie sie ihr Baby gesehen hatte? Sie hörte ein Flüstern, ein fernes Echo jenes Versprechens, das sie selbst gerade abgegeben hatte. Sie spürte, während sie ihn sah, auch das Echo eines Gefühls, das sie unwiederbringlich verloren geglaubt hatte, und das wollte sie ihm sagen, versuchte sie ihm zu sagen, nur wurde ihr Blickfeld immer dunkler, bis sie ihn kaum noch ausmachen konnte.
Dann ging ein Licht an, ein strahlendes, gleißendes Licht hinter ihm, das immer heller zu werden schien, bis er sich nur noch als Umriss abzeichnete. Sie sah etwas, etwas gleichzeitig Schönes und Schreckliches, und sie wusste, dass es sie holen kam.
»Engel«, flüsterte sie und starb.
So hatte sie sich den Tod nicht vorgestellt. Eigentlich sollte hier gar nichts sein. Sie schien in der Luft zu schweben, nach unten zu blicken, sah, wie er etwas aus ihrer Tasche holte und den Laptop nahm, aber nichts davon berührte sie noch. Dann spürte sie, wie sie ein innerer Zwang vom Unfallort wegzog, wie sie woanders hinkam, allerdings hatte sie kein Gefühl für Entfernung oder Geschwindigkeit oder auch nur Bewegung. Es war eher eine Art innerer Übergang, so als wäre sie im einen Moment das eine und im nächsten Moment etwas vollkommen anderes.
Drea wartete darauf, dass die Lichter ausgingen, dass ihr Bewusstsein abschaltete. Sie wartete auf das Nichts, obwohl sie sich fragte, wie sie es wohl erkennen sollte, nachdem nur das Bewusstsein das Fehlen eines Bewusstseins begreifen konnte. Aber ihre Gedanken wollten nicht weichen, ihr Selbst wollte nicht weichen, was alles sehr verwirrend war.
Vielleicht gab es also kein Nichts, vielleicht war da doch etwas. Vielleicht war der Tod eher ein Übergang als ein Ende. Aber wenn das stimmte, hätte sie doch inzwischen woanders sein müssen? Oder würde sie immer sie selbst bleiben, nur irgendwo anders und in anderer Gestalt?
Hätte es in diesem Fall nicht einen Tunnel geben sollen mit einem hellen Licht am anderen Ende, wo sie von Menschen erwartet und empfangen wurde, die sie geliebt hatten und vor ihr gestorben waren? Sie hatte ein strahlendes
Licht gesehen, und sie hatte etwas gesehen, das sie für einen Engel gehalten hatte, aber woher sollte sie wissen, ob es wirklich einer war, nachdem sie nie zuvor einen Engel gesehen hatte? Außerdem gab es hier weder einen Tunnel noch eine lange Schlange von Menschen, die sie begrüßen wollten, und das begann sie allmählich zu beunruhigen.
»Wo sind die alle?«, fragte sie leicht gereizt. Die Worte klangen merkwürdig flach, so als hätte sie nicht wirklich gesprochen und in Wahrheit auch nichts gehört. Das ergab keinen Sinn. Falls sie existierte, dann musste sie irgendwo existieren, doch sie schien nirgendwo zu sein. Um sie herum war nichts, nichts und niemand.
Falls sich herausstellte, dass der Tod eher das Ende des Seins als das Ende des Bewusstseins bedeutete, dann war sie am Arsch.
»Wo bin ich?«, fauchte sie, als sie ihren Ärger nicht mehr unterdrücken konnte. Sie hatte jahrelang nie Wut gezeigt, aber kaum war sie ein paar Minuten tot, schon verlor sie die Beherrschung.
»Du bist hier«, sagte eine Frauenstimme, und schlagartig war Drea dort, an einem richtigen Ort, auch wenn sie keine Vorstellung hatte, wo sich dieser Ort befand. Sie stand auf einem leicht
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