Süße Rache: Roman (German Edition)
und dachte unsinnigerweise, dass in einem Film der Wagen über den Abgrund hinwegsetzen und wild hüpfend auf der Straße landen würde, wobei er höchstens eine Stoßstange verlieren würde, ansonsten aber wie durch ein Wunder vollkommen unbeschädigt bliebe. Aber das war kein Film, der Moment endete. Das Gewicht des Motors zog den Wagen abwärts, dann sah sie die Bäume, die ihr entgegenschossen, als wären sie aus einem Raketenwerfer abgefeuert worden.
Nur Sekundenbruchteile, nur winzige Ausschnitte, trotzdem war ihr Blick kristallklar und ihre Gedanken waren geordnet und logisch. Das war also das Ende. Sie hatte schon oft an den Tod gedacht; anders als die meisten jungen Menschen hatte sie den Tod kennen gelernt, als sich in der zweiundzwanzigsten Schwangerschaftswoche ihre Plazenta gelöst hatte. Damals war sie fast gestorben; ihr Baby war gestorben, es war noch in ihrem Leib gestorben, und dann hatten sie es noch warm und reglos aus ihrem Leib geschnitten und mit ihm all ihre Träume und ihre quälend brennende Liebe. Er war so klein gewesen, so zerbrechlich und schlaff, und er war unaufhaltsam blau angelaufen, während sie Gott oder wen auch immer heulend angefleht hatte, ihn am Leben zu lassen, doch lieber ihr Leben zu nehmen, schließlich war er völlig unschuldig, anders als sie, ihm standen alle Möglichkeiten dieser Welt offen, während sie nichts wert war, aber offenbar war das kein guter Tausch gewesen, denn ihr Baby hatte nicht überlebt.
Sie schon, irgendwie. Sie hatte so getan, als wäre sie lebendig. Sie hatte überlebt, weil es nicht in ihrer Natur lag aufzugeben, selbst wenn sie nie wieder ein Kind bekommen würde. Sie hatte nie wieder jemanden geliebt und nie
wieder etwas für einen anderen Menschen empfunden, bis vor gut einer Woche er, dieser namenlose Er, ihre Mauern gesprengt und sie im Innersten berührt hatte.
Jetzt hatte er sie umgebracht.
Der erste Aufprall ließ die Windschutzscheibe platzen wie einen falschen Fingernagel. Falls der Wagen einst mit einem Airbag ausgestattet gewesen war, dann war der ausgebaut worden, weil sich kein großes weißes Kissen aufblies und ihr um die Ohren flog, obwohl sie der Aufprall traf wie ein immenser Schlag, unter dem alle Sinne zu funktionieren aufhörten und nur noch ein winziges Fenster offen blieb, das am Rande ihres Bewusstseins verharrte und nicht weichen wollte, weil es einfach nicht ihre Natur war, kampflos aufzugeben.
Dass sie keinen Airbag hatte, tat jedoch nichts zur Sache, weil der erste Aufprall sie nicht umbrachte. Sondern erst der zweite.
»Scheiße!«, fluchte Simon inbrünstig. Er stieg mit voller Wucht in die Bremse, bis der Pick-up mit qualmenden Reifen zum Stehen kam, schob den Ganghebel auf die Parkposition und sprang, noch während die Federung nachwippte, aus dem Führerhaus. »Fuck!«
Er blieb kurz am abbröckelnden Straßenrand stehen, überlegte, welchen Weg er am besten einschlagen sollte, und stürmte dann seitlich in halsbrecherischem Tempo den steilen Abhang hinab, auch wenn er dabei immer wieder in die Knie gehen, sich an Büschen festhalten und die Füße mit aller Kraft in den Boden stemmen musste. »Drea!«, schrie er, doch er rechnete nicht mit einer Antwort. Er hielt kurz inne und lauschte, hörte aber nichts als ein leises Summen in der Luft, eher ein Gefühl als ein Geräusch, so als würde die Wucht des Aufpralls nachhallen.
Der Abhang war zu tief, und es wuchsen hier zu viele Bäume. Wenn sich ein Auto mit einem Baum anlegte, gewann so gut wie immer der Baum. Trotzdem war sie vielleicht nicht tot; vielleicht war sie nur bewusstlos. Es kam immer wieder vor, dass Menschen einen Autounfall überlebten, selbst wenn das ausgeschlossen schien, während sich andere bei einem Blechschaden, bei dem nur wenig mehr als die Stoßstange verknautscht wurde, das Genick brachen und damit Schluss. Es kam auf die Position an und aufs Timing; Quatsch, es war eine Frage von Glück oder Pech.
Er konnte sich nicht erklären, warum sein Herz so pochte und sein Magen sich anfühlte wie mit Eis gefüllt. Er hatte so oft Menschen sterben sehen, auch aus nächster Nähe. Meist waren sie durch seine Hand gestorben. Der Übergang vollzog sich schnell, ein Augenzwinkern, der Flug einer Kugel, und das war’s: Licht aus. Keine große Sache.
Das hier fühlte sich allerdings sehr wohl wie eine große Sache an. Das hier war wie – Gott, er hatte keine Ahnung, wie sich das hier anfühlte. Vielleicht wie Panik. Oder wie tiefer
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