Süße Rache: Roman (German Edition)
Schmerz, obwohl er nicht verstand, warum er das eine oder das andere empfinden sollte.
Er kämpfte sich durch das Gehölz, kam ins Stolpern und rutschte die letzten sechs Meter auf dem Hintern abwärts. Der Wagen war rechts von ihm, halb im Geäst und Gebüsch verborgen, ein Haufen verheddertes Metall, aus dem immer noch Staub aufstieg. Überall funkelten Scherben der Scheinwerfer und Heckleuchten, rote, weiße und gelbe Splitter, die in der Sonne glitzerten. Ein Rad hatte sich komplett gelöst, und der Reifen war unter der Wucht des Aufpralls explodiert. Hier und da lagen verbogene, zerfetzte Metallteile.
Er erreichte zuerst das Heck des Wagens. Von hier aus konnte er knapp über der Kopfstütze ihren Scheitel erkennen; sie saß immer noch auf dem Fahrersitz. Die Fahrertür war komplett abgerissen, er konnte ihren linken Arm sehen, der schlaff aus der Öffnung hing und von dessen Fingerspitzen Blut tropfte.
»Drea«, sagte er wieder, diesmal leise.
Keine Reaktion. Er kämpfte sich durch das Gestrüpp und die Wrackteile, kam neben ihr zu stehen und erstarrte.
Gott. Eine junge Kiefer hatte die Windschutzscheibe – oder genauer das Loch, wo zuvor eine Windschutzscheibe gewesen war – durchschlagen und ihre Brust durchbohrt. Drea saß nur so aufrecht, weil sie an ihren Sitz genagelt war, und dieser Sitz war schon jetzt schwarz vor Blut. Er streckte die Hand aus und ließ sie gleich wieder sinken. Hier konnte er nichts mehr ausrichten.
Eine Brise raschelte in den Bäumen um sie herum, und ein paar Vögel sangen ihr Abendlied. Die untergehende Sonne brannte auf seinen Rücken und seine Schultern und badete alles in einem klaren, goldenen Licht. Alle Einzelheiten zeichneten sich kristallklar ab und wirkten dabei eigenartig losgelöst. Um sie herum verstrich die Zeit, doch er fühlte sich wie in einer Blase eingeschlossen, in der alles stillstand. Er musste sich überzeugen, um seinetwillen. Also beugte er sich halb in den Wagen und tastete nach dem Puls an ihrem Hals.
Wie es der Zufall wollte, hatte ihr hübsches Gesicht nur ein paar Schnittwunden abbekommen. Ihre klaren blauen Augen standen offen, und der Kopf war ihm zugewandt, als würde sie ihn ansehen.
Ihre Brust hob sich langsam und schwach, in diesem Moment begriff er erschrocken, dass sie ihn tatsächlich
ansah. Sie würde sterben, und zwar schon bald, aber noch konnte sie ihn sehen, noch erkannte sie ihn wieder.
»O Gott, meine Süße«, flüsterte er, schlagartig erlebte er noch einmal, wie sie schmeckte, wie weich und seidig sich ihre Brüste anfühlten, wie süß sie unter dem teuren Parfüm, das sie aufgelegt hatte, nach Frau duftete. Er erlebte wieder, wie sie sich in seine Arme geschmiegt hatte, wie sie nach Aufmerksamkeit gehungert hatte, wie eng und feucht und heiß ihr Körper gewesen war, als er sie genommen hatte, wie verloren diese blauen Augen ihm nachgesehen hatte, als er sie verließ. Er musste daran denken, wie glockenklar sie lachte, und die Erkenntnis, dass er dieses Lachen nie wieder hören würde, traf ihn wie ein Schlag, unter dem er kraftlos zusammenzusacken drohte.
Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie ihn hörte. Ihr porzellanweißes Gesicht blickte gelassen und heiter, als wäre sie schon von ihm gegangen. Doch ihr Blick lag fest auf seinem Gesicht, und plötzlich wurde ihre Miene weicher, fast verblüfft. Ihre Lippen bewegten sich, formten noch ein Wort … dann hatte sie ihn verlassen. Die blauen Augen erstarrten, begannen sich einzutrüben. Automatisch holte ihr Körper noch einmal Luft, als würde er um das Leben kämpfen, das ihn längst verlassen hatte, dann erschlaffte ihr Brustkorb.
Die Brise flirtete mit einer Haarsträhne und wehte sie über die bleiche Wange. Sanft streckte Simon einen Finger aus, um die Strähne zurückzustreichen, die jetzt dunkel und gerade war, aber sich noch genauso seidig anfühlte wie damals, als ihre Haare noch blond und lockig gewesen waren. Er legte sie hinter ihr Ohr und fuhr dann über ihre Wange. Es gab so vieles zu tun, aber im Moment konnte er nur wie festgewachsen stehen bleiben, sie ansehen und berühren, während sich der Boden unter seinen
Füßen auftat. Er beobachtete sie, wartete ab, hoffte auf einen weiteren Atemzug, aber sie war von ihm gegangen, daran gab es keinen Zweifel. Es war vorbei.
Er holte mehrmals tief und abgehackt Luft, dann richtete er sich mühsam auf. In seinem Leben war kein Platz für Rührseligkeit; er konnte nicht zulassen, dass ihm jemand oder
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