Süße Rache: Roman (German Edition)
leicht.
»Wenn ihr mir zeigt, wie ich hier wegkomme«, flüsterte sie gepresst, »dann gehe ich.«
»Das würde ich ja«, antwortete die Frau mitfühlend, »aber offenbar hat dich jemand hergebracht, wir müssen erst wissen -«
»Das war ich.« Ein Mann trat zu ihrer Gruppe und reihte sich in den losen Kreis ein, der sich um Drea gebildet
hatte. »Entschuldigt, dass ich so spät komme. Das ging alles zu schnell.«
Die anderen drehten sich zu ihm um. »Alban«, sagte die Frau. »Ja, es ging sehr schnell.« Drea rätselte, ob der Mann wohl Alban hieß oder ob das eine Art Begrüßung war. »Es liegen mildernde Umstände vor?«
»O ja«, sagte er tiefernst, dann lächelte er Drea in glühender Liebe an, und seine ernsten dunklen Augen tasteten ihr Gesicht ab, als wollte er sich ihre Züge genau einprägen oder uralte Erinnerungen wachrufen.
Sie sah ihn lange an, sie wusste, dass sie ihn noch nie gesehen hatte, gleichzeitig spürte sie eine so schmerzliche Vertrautheit, dass sie meinte, ihn kennen zu müssen. Genau wie alle schien er um die dreißig zu sein, so als würde niemand hier über die Blüte seiner Jahre hinauskommen. Sie hielt Ausschau nach Überlagerungen, die mehr über ihn verraten würden, aber seine Silhouette war praktisch frei von den Schichten vergangener Leben. Irgendwie fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Sie wollte ihm nahe sein, sie wollte ihn berühren, doch ihre Sehnsucht hatte nichts Fleischliches an sich. Reine Liebe wallte in ihr auf, quälend in ihrer Schlichtheit, bis sie ihm wie von selbst die Hand hinstreckte.
Er nahm sie lächelnd, und in diesem Moment wusste sie es. Sie wusste es, jenseits aller Zweifel und aller Bedenken.
Tränen stiegen ihr in die Augen und rollten über ihre Wangen, aber vor allem lächelte sie, während sie die Hand ihres Sohnes festhielt, an ihre Lippen hob und einen Kuss auf seine Knöchel hauchte. Das war ihr Sohn, er hieß Alban.
»Ah«, sagte die Frau leise. »Ich verstehe.«
Drea wusste nicht, was die Frau verstand, und es war
ihr auch gleich. Nach all den Jahren quälender Verlassenheit hielt sie endlich die Hand ihres Sohnes, sie sah ihm in die Augen und erblickte die Seele, die, wenn auch viel zu kurz, den winzigen Körper ihres Babys bewohnt hatte. Es war nicht die Gestalt, die ihr Baby später angenommen hätte, diese Gesichtszüge waren nicht die, die er später entwickelt hätte, aber der Kern … ja, das war ihr Kind, das sehr wohl gelebt hatte, nur in anderer Form.
»Sie hat mich geliebt.« Alban wärmte sie immer noch mit seinem perfekten, alles durchstrahlenden Lächeln. »Ich konnte es spüren, und ihr wisst genau, wie rein die Liebe war. Als ich sie verließ und heimkehrte, wollte sie mich retten, indem sie ihr Leben zum Tausch anbot.«
»Diese Scheiße funktioniert doch nie«, sagte der Bestatter in dem müden, leicht zynischen und gleichzeitig mitfühlenden Tonfall eines Menschen, der dieselbe herzzerreißende Szene viel zu oft und immer mit dem gleichen Ergebnis beobachtet hatte.
»Gregory«, mahnte ihn die Frau leicht amüsiert. Drea erklärte sie: »Er ist noch nicht lange bei uns, darum -«
»Erinnert er sich noch an vieles«, beendete Drea den Satz für sie. Sie musste unwillkürlich lächeln, weil Alban auch lächelte und ihre Hand hielt und weil damit alles gut war, ganz gleich, was jetzt geschehen würde.
»Sie hat es ernst gemeint«, sagte Alban und wiederholte ihre Reaktion von eben, indem er ihre Hand an seine Lippen hob und sie leicht auf die Finger küsste. »Sie war selbst noch ein Kind, gerade fünfzehn Jahre alt, aber sie liebte mich so, dass sie sich geopfert hätte, um mich zu retten. Darum habe ich sie hergebracht, denn auch wenn es viel Dunkles in ihrem Leben gab, so gab es darin auch reine Liebe, deshalb hat sie eine zweite Chance verdient. Dafür stehe ich als Zeuge.«
»Ich stimme ein«, sagte eine blonde, große und gertenschlanke Frau. »Sie war voller Liebe, sie trägt sie immer noch in ihrem Herzen. Dafür stehe ich als Zeuge.«
»Ich auch«, sagte ein Mann. Seine Überlagerungen verrieten ihr, dass er viel durchgemacht hatte, dass sein sterblicher Körper unter einer peinigenden Deformation gelitten hatte, die ihn zeitlebens an den Rollstuhl gefesselt hatte, aber jetzt stand er groß, kräftig und aufrecht vor ihr. »Dafür stehe auch ich als Zeuge.«
Von den elf Menschen um sie herum glaubten drei, dass es zu nichts führen würde, ihr eine zweite Chance einzuräumen, aber selbst diese drei
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