Süße Rache: Roman (German Edition)
nur verwirrt. »Sie sollte nicht hier sein. Seht sie euch an.«
Drea sah an sich herab, obwohl sie kaum sagen konnte, was sie trug. Kleidung, ja, aber die Details waren so verschwommen, dass sie die Sachen nur spüren konnte. Oder sah er ihre Fehler wie Flecken über ihrem Bild liegen, so wie sie sein Leben sah? Die Details ihres Lebens wirbelten durch ihren Kopf, sie schienen einen Schmutzfilm zu bilden, der alles überlagerte, was sie war und tat. Wut loderte in ihr auf; sie hatte ihr Bestes gegeben, um zu überleben, wenn ihm das nicht gefiel -
So abrupt, wie ihr Zorn aufgeflammt war, erstarb er auch wieder, ausgelöscht von tiefer Scham. Sie hatte nie wirklich ihr Bestes gegeben. Sie war ungemein geschickt darin gewesen, Männer zu manipulieren und alles zu bekommen, was sie wollte, sie war verflucht gut im Bett gewesen, sie hatte Sex als Waffe eingesetzt, sie hatte gelogen, sie hatte gestohlen, und obwohl sie in alldem wirklich gut gewesen war, hatte sie bei keiner ihrer Entscheidungen das Beste gegeben, höchstens das Bessere von zwei Übeln. Jedenfalls hatte sie nie nach dem Guten gestrebt.
Sie sah den Mann offen an und versuchte, sich in ihn zu versetzen. Er war Bestatter gewesen, erkannte sie; er hatte seinen Lebensunterhalt mit dem Tod bestritten, er hatte Familien in ihrer Trauer geholfen, indem er sie durch
die traditionellen Schritte geleitet hatte. Er hatte alles gesehen, er hatte Babyleichen und die Leichen von Greisen präpariert. Er hatte Menschen beerdigt, die von Hunderten geliebt und betrauert worden waren, und andere, die niemand vermisste. Der Tod hielt keine Überraschung für ihn bereit, und er fürchtete ihn nicht. Der Tod war ein Teil der natürlichen Ordnung.
Weil er so viel gesehen hatte, hatte er längst die Scheuklappen abgelegt, die seine Sicht einst eingeschränkt hatten. Er sah die Menschen so, wie sie waren, nicht so, wie sie gern gewesen wären.
Er sah genau, was sie war, und er wusste, dass sie wertlos war. Wertlos. Ohne Wert. Für ihr Verhalten gab es keine Entschuldigungen, keine Erklärungen. Sie senkte den Kopf und nahm hin, dass sie nicht an diesen Ort des Friedens gehörte. Sie hatte ihn nicht verdient. Alles, was sie je getan hatte, alles was sie je berührt hatte, war vergiftet, weil sie auf niemanden Rücksicht genommen hatte außer auf sich selbst.
»Sie ist bestimmt nicht grundlos hier«, sagte die Frau, obwohl sie genauso verblüfft aussah wie der Mann. »Wer hat sie hergebracht?«
Alle sahen einander an und warteten auf eine Antwort, doch die schien es nicht zu geben. Dies war … eine Art Tribunal, dachte Drea, wenn auch kein formelles. Vielleicht traf der Ausdruck »Torwächter« genauer. Heute waren sie an der Reihe, Dienst am Tor zu tun und die Menschen an den ihnen zugewiesenen Ort zu führen.
Nur dass sie hier nicht am rechten Ort war, dachte sie beklommen. Sie hatte nichts getan, womit sie verdient hatte, hier zu sein. Dass sie hier nicht willkommen war, war so beschämend und peinlich, dass es ihr wehtat. Dies war der Ort für die Guten, und sie gehörte nicht hierher, weil
sie nicht gut war. Und doch war sie nicht irrtümlich hier gelandet. Vielleicht war das dumm von ihr, aber sie wusste nicht, wie sie hierhergekommen war, und sie wusste genauso wenig, wie sie hier wieder wegkam.
Wenn hier die Guten landeten und sie nicht hergehörte, lag die Schlussfolgerung nahe, dass sie zu den Bösen gehören musste. Vielleicht landeten die Bösen in jenem großen Nichts, das sie stattdessen erwartet hatte, vielleicht starben sie ohne jede Hoffnung auf ein Weiterleben, aber vielleicht war das auch nur Wunschdenken, und es gab tatsächlich einen Ort für die Bösen, so wie die Pfarrer behaupteten, die so gern von Fegefeuer und Höllenqualen predigten. Sie war kein religiöser Mensch, war es nie gewesen. Selbst als Kind hatte sie insgeheim gedacht »Wer’s glaubt«, denn ihr eigenes Leben war der schlagende Beweis dafür gewesen, dass kein Schutzengel über sie wachte.
Vielleicht war dies auch nicht der Himmel, wie er traditionell ausgemalt wurde, vielleicht war hier alles anders eingerichtet, aber es herrschten definitiv Güte und Frieden, also war dies möglicherweise doch der Himmel. Oder war es das nächste Leben, und nur wer sich würdig erwiesen hatte, durfte weiterleben? Für die übrigen, so wie sie, gab es kein Weiterleben, keine Kontinuität des Geistes, der Seele oder des Bewusstseins.
Wieder betrachtete sie ihr Leben, wog es ab und fand es zu
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