Süße Rache: Roman (German Edition)
tot und ausgeheilt.
Kein Medikament konnte die Klarheit trüben, mit der sie sich an alles erinnerte, was nach ihrem Tod geschehen war. Dagegen lag das Diesseits hinter einem dichten Schleier. Manchmal hörte sie die Schwestern reden, wenn sie an ihrem Bett auf der Intensivstation standen, doch die Worte schienen haltlos durch ihr Hirn zu treiben, wobei sie manchmal Sinn ergaben, mindestens so oft aber ein Rätsel blieben. Wenn sie etwas verstand, dann wunderte sie sich nur: Ein Baum hatte in ihrer Brust gesteckt? Lächerlich. Aber hatte sie nicht selbst hinabgeschaut und etwas Ähnliches gesehen? Ihre Erinnerung an alles davor oder dazwischen war verschwommen. Obwohl das mit dem Baum in der Brust bestimmt erklären würde, warum sie sich so elend fühlte und warum die Höllenschmerzen in ihrer Brust auf jede Zelle ihres Körpers ausstrahlten. Sie hatte keinerlei Zeitgefühl, sie wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war oder was jenseits ihres Bettes geschah, denn sie kämpfte immer noch die nicht nachlassende Schlacht mit der Schmerzbestie.
Die Schwestern redeten auch mit ihr, immer wieder erklärten sie ihr, was ihr passiert war, was sie jetzt tun würden und warum sie es taten. Es war ihr egal, solange sie ihr Medikamente gaben, mit denen sich die Bestie im Zaum halten ließ. Natürlich kam irgendwann der Zeitpunkt – viel zu früh, wenn jemand sie gefragt hätte -, in
dem der Chirurg anordnete, die Medikamente zurückzufahren. Was ging ihn das überhaupt an, er hatte doch keine Schmerzen, oder war etwa sein Brustbein zerschmettert worden? Er war derjenige, der mit Skalpell und Säge hantierte, nicht derjenige, der die Folgen zu spüren bekam. Sie hatte nur eine vage Vorstellung, welcher ihrer Besucher der Chirurg war, aber als sich ihr Verstand aufzuhellen begann, prägte sie sich ein paar ziemlich scharfe Bemerkungen ein, die sie ihm um die Ohren hauen wollte. Okay, er hatte ihr Brustbein halbiert, aber ihre Medikamentendosierung zu halbieren? Dieses Schwein.
Falls ihre Erlebnisse und Erfahrungen nach dem Tod dazu gedacht gewesen waren, sie milde und nachsichtig zu stimmen, damit sie ihre zweite Chance wahrnehmen konnte, dann war sie bereits durchgefallen. Sie fühlte sich weder milde noch nachsichtig. Sie fühlte sich wie eine Frau, der man die Brust entzweigesägt und das Herz aus dem Leib gerissen hatte, um damit Fußball zu spielen.
Als sie allmählich aus ihrem medikamentösen Nebel auftauchte, konnte sie anfangs nur an die Bestie denken und sich fragen, wie sie die nächste Stunde überstehen sollte; denn ohne Drogen war die Bestie ihr ständiger Begleiter. Inzwischen zerrten die Schwestern sie mehrmals am Tag aus dem Bett und schleiften sie zu einem Stuhl, in dem sie sitzen musste, als könnte man das Krankenhausbett nicht in Sitzposition hochfahren, ohne dass sie sich bei jeder Bewegung einen Schmerzensschrei verbeißen musste. Sie brauchten doch nur einen Knopf zu drücken, schon würde sich das Kopfende erheben, und hallo, sie konnte einfach liegen bleiben und alles bequem meistern.
Aber nein, sie musste aufstehen. Sie musste herumgehen, falls man das Gehen nennen konnte. Sie nannte es In-Qualen-gekrümmtes-Schlurfen, bei dem sie die Füße in
Zeitlupe vorwärtsschob, statt sie tatsächlich vom Boden zu heben, während sie gleichzeitig mit all den Schläuchen, Drähten, Kabeln, Nadeln und Infusionen in ihrem Körper kämpfte und obendrein versuchte, nicht mit blankem Hintern dazustehen, weil ihre einzige Kleidung – oder eher Bedeckung – aus einem elenden Krankenhausnachthemd aus Baumwolle bestand, das nicht mal zugebunden war, sondern nur über sie gelegt, wobei nur der eine Arm durch das Armloch geführt wurde. Kein Wunder, dass auch der letzte Rest an Schamgefühl schnell aufgebraucht war; ein Krankenhaus war kein Ort für Privatsphäre, so gering sie auch sein mochte.
Die Schwestern redeten ständig auf sie ein und ermunterten sie zu einem Schritt und dann noch einem, ganz gleich, ob es darum ging, tatsächlich die zwei Schritte zu dem Stuhl zu gehen, in dem sie sitzen musste, oder ob sie ganz allein einen Schluck Wasser trinken sollte oder sich sogar einen Löffel Apfelmus in den Mund schieben musste, um festzustellen, ob sie wieder feste Nahrung bekommen konnte. Immerzu stellten sie ihr Fragen, um sie zum Reden zu bringen, um ihr Informationen zu entlocken, aber abgesehen von dieser wundersamen zweiten Chance war ihr noch etwas widerfahren: Sie hatte aufgehört zu sprechen.
Wenn sie
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