Süße Rache: Roman (German Edition)
Ich kann nichts erkennen, was ihre Sprachstörung erklären würde. Vielleicht konnte sie schon vorher nicht sprechen; vielleicht ist sie taub. Haben Sie es mit Gebärdensprache versucht?«
»Wenn sie taub wäre, hätte sie selbst Gebärdensprache eingesetzt, um mit uns zu kommunizieren«, meinte der Chirurg trocken. »Aber das hat sie nicht. Sie verwendet auch keine andere Sprache, sie versucht nicht zu schreiben
oder zu zeichnen, sie lässt nicht einmal erkennen, ob sie uns hört. Falls ich einen Vergleich wagen müsste, würde ich sagen, diese komplette Verweigerung jeder Kommunikation ist symptomatisch für eine autistische Person, für die ich sie nicht halte, weil sie fast ständig Blickkontakt hält und alles tut, was die Schwestern von ihr verlangen. Sie versteht uns sehr wohl. Sie kooperiert. Sie kommuniziert nur nicht. Dafür muss es einen Grund geben.«
»Keinen, den ich erkennen könnte.« Sie hörte den Neurologen seufzen. »So wie sie die Leute ansieht … man könnte fast meinen, wir wären eine fremde Lebensform, die sie studiert. Wir versuchen auch nicht mit Bakterien zu kommunizieren. So in etwa.«
»Natürlich. Sie hält uns für Bakterien.«
»Sie wäre nicht die erste Patientin, die so empfindet. Also, ich persönlich würde empfehlen, einen Psychologen hinzuzuziehen. Sie hatte ein definitiv traumatisches Erlebnis, selbst für unsere Maßstäbe. Vielleicht braucht sie Hilfe, um es zu überwinden.«
Traumatisch? War es das wirklich gewesen? Was davor passiert war, war höllisch traumatisch gewesen, aber der Tod selbst … nein. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wie der Baum sie durchbohrt hatte. Sie wusste, dass es passiert war, sie konnte sich verschwommen daran erinnern, dass sie sich selbst betrachtet hatte, aber alles in allem war sie froh, dass sie gestorben war, denn andernfalls wäre sie Alban nicht begegnet und hätte nie erfahren, dass dieser wundervolle Ort existierte und dass dort draußen etwas auf sie wartete. Das Leben war nicht alles; es gab noch mehr, viel mehr, wenn die Menschen vom Tod als »Übergang« sprachen, trafen sie damit den Nagel auf den Kopf, weil der Geist tatsächlich in eine andere Existenzebene
überging. Dieses Wissen war tröstlicher als alles, was sie sich nur vorstellen konnte.
Also kam eine Psychologin, Dr. Beth Rhodes, mehrmals an ihr Bett, um mit ihr zu sprechen. Sie wollte Beth genannt werden. Sie war eine hübsche Frau, aber sie hatte Eheprobleme und war eigentlich eher damit beschäftigt als mit ihren Patienten. Drea alias Andie – oder war sie Andie alias Drea? Wer kam inzwischen zuerst? – fand, dass Dr. Beth ein paar Wochen Urlaub nehmen und sich während dieser Zeit auf das Wesentliche konzentrieren sollte, weil sie ihren Mann liebte, er sie ebenfalls liebte und die zwei an ihre beiden Kinder denken mussten, weshalb sie den ganzen Mist endlich klären und die Ehe wieder auf die Reihe bringen sollten, damit sich Dr. Beth hinterher ihren Patienten mit voller Aufmerksamkeit widmen konnte.
Falls sie gesprochen hätte, hätte sie ihr genau das erklärt. Aber sie fühlte keinen Drang, Dr. Beths Fragen zu beantworten, wenigstens nicht jetzt. Sie musste erst einiges klären.
Zum Beispiel: Niemand wusste, wer sie war. Offiziell war Drea Rousseau alias Andie Butts gestorben. Sie brauchte Rafael oder den Killer nicht mehr zu fürchten. Sie konnte ganz neu beginnen, und sie konnte sein, wer sie sein wollte. Das konnte sich als Problem erweisen, weil unter den Menschen, die regelmäßig an ihrem Bett standen, auch ein Bulle war, ein Detective, der allerdings kein Verbrechen aufklären, sondern nur herausfinden wollte, warum sie einen Wagen mit einem Nummernschild fuhr, das an einen anderen Wagen gehörte, und warum sie keinen Führerschein besaß, alles keine großen Straftaten, aber dennoch Fragen, die eine Antwort verlangten. Außerdem war sie offiziell eine Person ohne Identität, und
er wollte genauso gern wissen wie das Krankenhauspersonal, wer sie war.
Schließlich kam der Tag, an dem sie von der Intensivstation in ein normales Krankenzimmer verlegt wurde. Während die Schwestern sie vorbereiteten, die Schläuche abzogen, mit ihr plauderten und ihr weismachen wollten, wie gut sie sich schlug und wie sehr sie ihre Patientin vermissen würden, konzentrierte sie sich plötzlich auf eine Schwester. Sie hieß Dina, und sie war die Stillste aus dem Schwesterngeschwader, aber sie war stets nett und fürsorglich, ihr war bei jeder Berührung
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