Sueße Versuchung
hatte große Augen bekommen. Und was hatte ihr Haus damit zu tun? Stammten diese Fußabdrücke nicht von übermütigen jungen Männern oder spukenden Gespenstern, sondern von sehr lebendigen Schmugglern, die Marian Manor als Treffpunkt missbrauchten? So war das also! Kein Wunder, dass Henry den Schlüssel nicht gefunden hatte! Er hatte alles versucht, um sie daran zu hindern, hinzureiten!
Wie es schien, hatte Lord Edward mit seiner düsteren Bemerkung recht gehabt. Hier in Eastbourne war tatsächlich nicht alles so friedlich, wie sie anfangs gedacht hatte:
Lord Edward verfolgte frühmorgens nackte Frauen, der gut aussehende Captain Hendricks war in illegale Geschäfte mit Halsabschneidern verwickelt, und ihr Vetter Henry steckte ebenfalls mittendrin. Ein flüchtiger Kälteschauer rann über Sophies Rücken. Vielleicht war es ganz gut gewesen, dass sie keine Gelegenheit mehr gehabt hatte, zu ihrem Haus zu reiten. Wer weiß, wen sie dort getroffen hätte. Aber war nicht Lord Edward ebenfalls aus dieser Richtung gekommen, als er die Schwarzhaarige verfolgt hatte? Es war einer der Wege gewesen, die zum Haus führten. War die Schwarzhaarige von dort geflüchtet? War sie eine Gefangene der Schmuggler gewesen? Nein, denn sie war freiwillig mit Hendricks zurückgeritten. Dann war sie also so eine Art Schmugglerbraut!
»Verschwinden Sie jetzt«, hörte sie abermals Hendricks scharfe Stimme. »Und reißen Sie sich zusammen. Sie haben sich das selbst eingebrockt. Jetzt müssen Sie die Sache auch durchhalten.«
Schritte, die sich entfernten. Sophie stockte der Atem, als sie hinter der Mauer ein Geräusch hörte. Sie vermutete, dass es Captain Hendricks war, der misstrauisch herübersah, und warf einen schnellen Blick auf das Gras. Es hatte sich natürlich noch nicht aufgestellt, wirkte jedoch nicht allzu verdächtig. Zum Glück hatte hier jemand vor kurzem gemäht.
Sie hörte abermals leiser werdende Schritte, kroch nach einiger Zeit aus ihrer Deckung, pirschte sich an die Mauer und lugte darüber. In der Ferne, einem kleinen Pfad zwischen den Feldern folgend, ging tatsächlich Jonathan Hendricks. Jetzt erst erlaubte sie sich, tief durchzuatmen. Sie hockte sich wieder auf ihre Decke, zog die Knie an und überlegte, während sie einen längeren Grashalm abzupfte und daran nagte. Was sie da soeben gehört hatte, war abenteuerlicher als alles, was sie sich jemals erhofft hätte. Deshalb war Henry also oft so niedergeschlagen, so bedrückt, schlich mit einem Gesicht wie sieben Tage Regenwetter herum! Sie hatte ihn schon einmal darauf angesprochen, aber er war ihr ausgewichen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch gemeint, er sähe so unausgeschlafen aus, weil er sich die halbe Nacht auf der Jagd nach amourösen Abenteuern oder mit seinen Dandy-Freunden herumtrieb. Dabei machte ihr Vetter Henry dunkle Geschäfte für und mit Jonathan Hendricks!
Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte zwar bemerkt, dass sich die gehobene Schicht der Eastbourner Gesellschaft von Hendricks fernhielt, aber nur deshalb, weil er einen Ruf als Lebemann hatte, und gewiss nicht, weil stadtbekannt war, dass er zu einer Verbrecherbande gehörte. Sie hatte ihn bei diesem denkwürdigen Ball ein ums andere Mal unter den Gästen bemerkt, aber er hatte keine Anstalten gemacht, sie anzusprechen. Sie hatte jedoch gesehen, dass er mit Henry und sogar mit Lord Edward geredet hatte.
Sophie hatte schon so einiges von den Tätigkeiten der Schmuggler in dieser Gegend gehört. Ein sehr berühmter Schmuggler hatte tatsächlich vor einigen Jahren sein Leben am Galgen ausgehaucht. Darin hatte Henry wenigstens nicht gelogen. Sophie hatte diese Geschichten mit Interesse verfolgt, fand aber die Vorstellung wenig reizvoll, ihren Vetter mit einem ähnlichen Schicksal beglückt zu sehen.
Was sollte sie tun? Henry darauf ansprechen? Oder zuerst herausfinden, was da los war? Und dann erst mit Henry reden? Sie kaute intensiver auf dem Grashalm. Sie hatten sich für heute Nacht verabredet. Wie wäre es, wenn sie Henry einfach heimlich folgte? Ein angenehmes Prickeln hatte Sophie erfasst, ein Kitzeln in ihrem Magen und ihrem Hals, das sich bis in ihre Wirbelsäule fortpflanzte. Endlich geschah hier etwas, das diese tägliche Langweile unterbrach, in der Tante Elisabeths Einkaufsfahrten nach Lewes und die Whistabende mit Sir Winston – und in Zukunft mit Lord Edward – die einzige Abwechslung waren.
Sophie spuckte entschlossen den Grashalm aus. Heute Nacht also. Sie würde bereit
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