Sueße Versuchung
könnte, aber dann schüttelte sie den Kopf. Nein, der hätte niemals vor ihr an der Stelle sein können, wo sie Rosalind zurückgelassen hatte. Und er hätte sie auch nicht laufen lassen.
Die Möglichkeit, dass der Mann die Schmuggler ebenso belauscht hatte wie sie, faszinierte Sophie. Wer konnte er sein? Ein Büttel, der diesen Verbrechern bereits auf der Fährte war? Aber ein Polizist, der fremde junge Männer an einen Baum drängte und sie sogar küsste? Unwahrscheinlich.
Sie versuchte sich seine Worte, sein Benehmen, sein Aussehen ins Gedächtnis zurückzurufen. Das Aussehen war schwierig, es war ja so dunkel gewesen, dass sie kaum seinen Schatten wahrgenommen hatte. Ihre Eindrücke bestanden lediglich aus Stimme, Händen, Lippen, breiten Schultern, einem harten Körper, der sie gegen den Stamm presste. Das war in diesem Moment viel gewesen, aber um jemandem wiederzuerkennen herzlich wenig. Auch wenn eine gewisse Vertrautheit in der Art gewesen war, in der er sie gepackt hatte. Dieser Unterton in der flüsternden Stimme.
Diese Drohungen.
Konnte es … nein! Unmöglich! Sophie hob unwillkürlich abwehrend beide Hände.
Aber wenn es doch Lord Edward war? Die Vorstellung nahm Sophie den Atem und gleichzeitig hoffte sie es innigst. War es denn wirklich so unwahrscheinlich? Er tauchte doch immer dort auf, wo sich einer oder mehrere Schmuggler herumtrieben!
Und tatsächlich hatte sie ihn das erste Mal bei Marian Manor getroffen! Ferner kannte er Hendricks. Und an dem Morgen auf den Klippen war er ebenfalls vom Haus gekommen. Es konnte doch nicht alles nur Zufall sein! Auch seine Worte passten dazu! Natürlich! Schon beim Ball hatte er als Preis einen Kuss für seine Hilfe verlangt, und nun war dies der Preis für ihre Freiheit gewesen! Dieser Schuft!
Und wenn er zu der Bande gehörte? Vielleicht so wie Henry erpresst wurde?
Vielleicht hatte er den Auftrag, das Haus zu bewachen. Aber weshalb hatte er sie dann laufen lassen?
Weil er sie erkannt hatte. Das war nun klar. Er hatte gewusst, wer in der Hose steckte.
Er wusste, dass Sophie ohnehin niemanden verriet, weil sie sonst Henry an den Galgen lieferte.
Und … er hatte sie wieder einmal abgegrapscht. Dieses Mal noch viel heftiger als davor. Und hatte sich dann sogar entschuldigt. Sophie entfuhr ein Kichern. Sie schüttelte den Kopf. Der Mann war für sie ein Buch mit sieben Siegeln. In der einen Minute ein Wüstling, in der anderen beschützte er sie davor, sich durch ihren falschen Gesang zu blamieren oder diesen Verbrechern in die Hände zu fallen.
Sophie versank in eingehende Betrachtungen über Lord Edwards Charakter, bis Tante Elisabeths Kutsche vor dem Haus vorfuhr. Sie hob den Kopf und sah neugierig hinunter. Wollte ihre Tante noch ausfahren? Es war jedoch Henry, der aus dem Haus trat. Er suchte in seinen Manteltaschen, dann schickte er den Diener nochmals zurück.
Sophie erhob sich. Sie musste gründlicher über Lord Edward nachdenken. Aber nicht jetzt. Eines nach dem anderen. Vorerst interessierte es sie, wohin ihr schmuggelnder Vetter Henry heute Abend noch ausgehen wollte.
* * *
Als Henry in die Kutsche steigen wollte, stand Sophie neben ihm.
»Du gehst noch aus?«
»Zu einer … einem F … Fest«, kam es zögernd.
Sophie runzelte die Stirn. Niemand hatte ihr von einem Fest erzählt. Üblicherweise hätte Tante Elisabeth ebenfalls eine Einladung erhalten müssen, wie bei allen Veranstaltungen in dieser Stadt. Von denen es ohnehin nur wenige gab, da Eastbourne zwar den Status eines gepflegten Badeortes innehatte, sich die meisten Festlichkeiten jedoch in Brighton abspielten, wo der Prinzregent weilte, wenn er sich in Sussex aufhielt.
»B … bei Captain Hendricks. Es ist wirklich nur ein Fest, sonst nichts«, setzte Henry hinzu.
Nun wunderte sich Sophie nicht, dass Tante Elisabeth keine Einladung erhalten hatte.
Pirat Hendricks bewegte sich natürlich in anderen Kreisen. Sophie erkannte jedoch auch sofort die Möglichkeit, die sich ihr hier bot. Bei einem Fest konnte sie bestimmt unauffällig mit Hendricks sprechen. Vor seinen Gästen konnte er sie weder bedrohen, noch sonst einen Skandal auslösen.
Henry staunte nicht schlecht, als er in die Kutsche stieg und bemerkte, dass hinter ihm Röcke raschelten. Dann erfasste ihn ein zarter Duft, und ein entschlossenes Paar Hände schob ihn weiter, als er mitten in der Kutschentür stockte und über die Schulter zurücksah.
»Lass mich rein, Henry.«
»Was willst du denn?« Er mochte seine
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