Sueße Versuchung
nicht schon längst getan hätte, wenn das so leicht wäre?«
»Das war, bevor ich davon gewusst habe«, erklärte Sophie von oben herab. Sie hockte sich mit unterschlagenen Beinen aufs Bett und stützte den Kopf in die Hand. Henrys Blässe hatte sich ein wenig gelegt, und so etwas wie vorsichtige Hoffnung glänzte in seinen Augen. Es war ihm deutlich anzusehen, wie froh er war, sein Problem und seine Angst endlich mit jemandem teilen zu können.
»Abgesehen davon, dass dich jetzt wahrscheinlich die Hälfte der Schmuggler kennt, und Captain Hendricks ebenfalls gegen dich aussagen könnte«, fing Sophie nach einer Weile an, »hat er sonst noch etwas gegen dich in der Hand?«
Henry ließ den Kopf hängen. »Da ist so ein Buch, in dem sie alle ihre Fässer und Waren aufzeichnen, den Tag, an dem sie übernommen und an wen sie weitergeliefert werden.«
»Das ist ja wie Vaters Buchhaltung«, sagte Sophie verblüfft.
»Ja, da hängen eine Menge Leute dran«, erwiderte Henry. Fast klang etwas Stolz in seinen Worten mit. »Ich bin nicht der Einzige, den sie erpressen. Und es gibt verschiedene Banden, die zusammenarbeiten und die diese Bücher kontrollieren. Auf die Art wollen sie verhindern, dass einer den anderen betrügt.«
»Und da hast du unterschrieben?« Sophie klang abfällig.
»Nein. Aber mein Name steht bestimmt drinnen«, jammerte Henry. »Und dann gibt es ja noch die Schuldscheine, die Captain Hendricks aufgekauft hat.«
Sophie maß ihn mit einem sprechenden Blick. »Wir müssen also zuerst diese Schuldscheine in die Hand kriegen!«, stellte sie dann fest. »Und auch noch das Buch.«
Sie sah ihn nachdenklich an. »Vielleicht sollten wir doch die Polizei informieren.«
Henry erbleichte. »Das geht nicht! Dann kommt doch alles heraus!« Er fuhr sich verzweifelt durch die Haare, bis sie nach allen Seiten standen. »Was würde Mama dazu sagen? Sie würde sich zu Tode kränken!«
Sophie dachte nach. Sie mochte ihre Tante zwar nicht, aber sie wollte weder ihr noch Henry schaden. »Dann«, sagte sie entschlossen, »müssen wir selbst etwas tun, um dich da rauszukriegen.«
9. KAPITEL
In den nächsten Tagen versuchte Sophie, Henry nicht nur Mut zuzusprechen, sondern ihn auch dazu zu bewegen, sich gegen Jonathan Hendricks aufzulehnen. Er wurde jedoch nicht mutiger, sondern immer verzagter, und am Ende verbot er ihr sogar, das Thema überhaupt noch einmal anzuschneiden.
Es war klar: Sophie musste selbst etwas unternehmen. Ihr Vetter Henry war ein Hasenfuß, das war offensichtlich. Sophie fühlte sich jedoch für ihn verantwortlich. Er war zwar Engländer, aber die Familie musste zusammenhalten. Das hatte ihr Vater sie schon sehr früh gelehrt.
Sie hatte sich nach dem Abendessen auf ihr Zimmer zurückgezogen, um in Ruhe nachdenken zu können. Es war ein warmer Abend, und so saß sie im dämmrigen Raum vor dem Fenster und sah hinaus. Einige Vögel piepsten, schon halb im Schlaf, die Grillen im Vorgarten zirpten, und auf der Straße vor dem Haus waren noch Leute.
Handwerker, die heimkehrten und mehrere Damen und Herren, die vermutlich zu einer Festlichkeit unterwegs waren. Kutschen und Sänften kamen und gingen.
Sophie legte die verschränkten Arme auf das Fensterbrett, bettet das Kinn darauf und überlegte. Die Möglichkeit, Captain Hendricks anzuzeigen, fiel von vornherein weg.
Er würde sicher verhört werden und dann von Henry erzählen – schon um sich zu rächen, wenn dieser gegen ihn aussagte. Nein, sie musste Jonathan Hendricks einschüchtern und ihm drohen.
In ihren Überlegungen tauchte immer wieder dieser fremde Schmuggler auf, der sie überfallen und geküsst hatte. Sie hatte ihn für einen der Männer gehalten, weil er sie damit bedroht hatte, den Rest der Bande zu rufen. Aber dann hatte er sie einfach gehen lassen. Hätte einer dieser Verbrecher dies aber getan? Er hatte doch annehmen müssen, dass sie alles gesehen hatte und die Bande verraten konnte!
Verwirrt, wie sie von diesem Kuss gewesen war, hatte sie gar nicht darüber nachgedacht. Das war ein Fehler gewesen. Wann immer sie sich an ihn erinnert hatte, waren es seine Hände, seine Lippen, sein Körper, diese erregende Ausbuchtung zwischen seinen Beinen gewesen, die sie beschäftigt hatten. Aber wenn sie kühler und objektiver darüber grübelte – was nicht ganz einfach war – so hatte er nicht wie ein gewöhnlicher Verbrecher gewirkt. Sekundenlang dachte sie darüber nach, ob es vielleicht Captain Hendricks selbst gewesen sein
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