Süßer die Glocken (German Edition)
Minuten handelte. Wie hatte sie nur so trödeln können? Das passierte ihr doch sonst nie.
Der Kunde stand in der geöffneten Tür und wartete bereits auf sie. Herr Melcher wohnte mit seiner Familie in einem großen Haus. Der weiße Außenanstrich und die weißen Vorhänge, die man durch die Fenster sehen konnte, verliehen dem Gebäude etwas Vornehmes und zugleich unheimlich Steriles.
Der Gesichtsausdruck des Hausherrn wirkte unfreundlich. Sicher hatte er kein Verständnis für Annes Unpünktlichkeit, was sich womöglich auch auf ihr Honorar für diesen Auftrag auswirken würde. Doch Anne überspielte diesen unerfreulichen Gedanken mit einem Lächeln.
»Herr Melcher«, setzte sie an, denn es machte sich immer besser, sein Gegenüber zunächst mit dessen Namen anzusprechen, »ich bitte um Entschuldigung. Ich habe …«
Er winkte ab. »Ersparen Sie mir Ihre Erklärungen. Erledigen Sie nur Ihren Job.«
Anne verkniff sich jede Erwiderung. Sie nickte nur, während sie den schwarzen Mantel über ihre Schultern zurückschob, um das knappe Engelskostüm zu entblößen, das sie darunter trug. Es war ungewöhnlich, dass Herr Melcher dabei völlig desinteressiertzu Boden starrte. Normalerweise wurde sie von ihren männlichen Kunden begafft wie eine Stripperin, die sich bis auf die Nylonsöckchen auszuziehen gedachte. Dieser hier wischte sich nur genervt das spärliche Haar aus der Stirn. Dann drehte er sich um und blickte für einen langen Moment in den Hausflur hinein. Schließlich wandte er sich Anne wieder zu.
»Okay. Sie können jetzt reinkommen. Violetta ist mit ihrer Mutter im Wohnzimmer. Da«, er deutete mit dem Finger in die Richtung, »immer geradeaus. Ich folge Ihnen.«
Violetta – das war die Tochter von Herrn Melcher, für die Anne den Weihnachtsengel spielen sollte. Aber ein Weihnachtsengel, der immer noch seinen schwarzen Mantel im Arm hielt, würde kaum einen glaubhaften Eindruck machen. Daher blieb Anne stehen und bedachte ihren Auftraggeber mit einem fragenden Blick.
»Was ist denn? Warum kommen Sie nicht rein? Es ist verdammt kalt da draußen!«, herrschte er sie an.
Anne wusste, wie kalt es war. Denn immerhin war sie diejenige, die in einem weißen Hauch von Nichts vor der Tür stand. Ihr Lächeln drohte auf ihren Lippen zu erstarren.
»Würden Sie bitte?« Sie hielt ihm den Mantel entgegen.
Herr Melcher seufzte. »Ja, sicher, wenn’s denn sein muss.« Er nahm ihr den Mantel ab und verfrachtete ihn in die nächstbeste Ecke. Anne hätte sich gerne darüber beschwert, entschied sich aber dafür, es schweigend hinzunehmen. Endlich betrat sie den Hausflur. Vor lauter Staunen über die opulente Pracht, die sie mit einem Mal umgab, wäre ihr beinahe der Mund aufgeklappt.
»Da vorne«, zischte Herr Melcher leise. »Machen Sie schon. Violetta ist sehr ungeduldig.«
Woher sie das wohl hat
, fragte sich Anne und lächelte innerlich.
»Und vergessen Sie die Geschenke nicht.«
»Keine Sorge.« Sie präsentierte ihm den Jutesack, den sie schon die ganze Zeit über bei sich trug. Der war prall gefüllt und verdammt schwer. Anne erinnerte sich noch genau an den 1. Dezember,als Herr Melcher in der »Engel-Agentur« aufgetaucht war und seinen Auftrag erteilt hatte. Den Sack mit den Geschenken hatte er gleich mitgebracht und den ersten Teil des Honorars im Voraus gezahlt. Allgemein schien er sehr bemüht um seine Tochter, woraus Anne schloss, dass die kleine Violetta entweder sehr brav oder einfach nur sagenhaft verwöhnt war.
Je weiter sie sich dem Wohnzimmer näherte, umso mehr entschied sie sich für letztere Theorie. Immerhin würde ein braves Mädchen nicht in derart hohen Tönen keifen, wie sie es hier zu hören bekam.
Anne drückte den Rücken durch und atmete einmal tief ein, ehe sie um die Ecke bog und das Wohnzimmer mit einem freundlichen Strahlen auf dem Engelsgesicht betrat. Es galt einem Mädchen von schätzungsweise sechs Jahren. Das steckte in einem rosa Prinzessinnenkleid und hatte goldglänzende Locken, die ihr lang und offen über die Schultern fielen. Sie hätte sehr hübsch sein können, hätte sie nicht dieses zornig-rote Gesichtchen gezeigt und wäre sie nicht wie eine Furie aufgesprungen, um mit einem hörbaren Zähneknirschen auf Anne zuzulaufen.
Dieses Kind war regelrecht angsteinflößend. Anne musste sich wirklich sehr bemühen, damit ihr das Lächeln nicht aus Versehen von den Lippen glitt. Sie klammerte sich an dem Jutesack fest und suchte inständig nach den richtigen Worten.
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