Süßer die Glocken (German Edition)
Gerade wollte sie zu ihrer Standardbegrüßung ansetzen, da hatte Violetta sie auch schon erreicht und begann wie eine Wahnsinnige an dem Jutesack zu zerren.
»ICH WILL MEINE SUPER-BARBIE! SOFORT!!!«
Anne rang um Fassung. »Aber, meine liebe Violetta, du musst erst ein Gedicht aufsagen, bevor ich dir ein Geschenk vom Weihnachtsmann geben kann.«
»ICH HASSE GEDICHTE! ICH WILL MEINE BARBIE!« Violettas Kreischen ging in ein ohrenbetäubendes Heulen über.
Frau Melcher hatte bislang stumm auf einem Stuhl neben dem Weihnachtsbaum gesessen. Nun stand sie – ebenso stumm – auf,kam auf ihre Tochter zu und legte ihr von hinten die Hände auf die Schultern. Diese Geste sollte wohl beruhigend wirkte, führte jedoch nur zum nächsten Wutausbruch Violettas.
Herr Melcher stand schräg hinter Anne gegen den Türrahmen gelehnt und nippte an einem Becher mit offenbar stark alkoholischem Inhalt. Wie sonst hätte er das aushalten können?
Anne fühlte sich hilflos. Am liebsten wäre sie auf der Stelle im Boden versunken. Was sollte sie nur tun? Ihr Standardprogramm fortsetzen? Oder doch lieber alle Geschenke auspacken und gleich wieder verschwinden?
Violettas Kreischen erreichte unübertreffliche Höhen. Vor Schock erstarrt beschloss Anne, einfach ohnmächtig zusammensacken zu wollen. Da betrat unverhofft eine weitere Person den Raum. Ihr blieb die Luft weg. Träumte sie etwa? Da nahte tatsächlich mit geschwollener Brust ihr Retter in der Not. Er war groß und von äußerst ansehnlicher Gestalt. Mit seinen dunklen halblangen Haaren und dem gebräunten Teint sah er beinahe aus wie ein feuriger Latino. Obendrein bewegte er sich auch noch derart verführerisch, das Anne nicht anders konnte, als ihn voller Verlangen und mit offenem Mund zu begaffen.
Sie war schon eine Weile solo und gerade jetzt, zur Weihnachtszeit, sehnte sie sich mehr denn je nach einem Mann. Kein Wunder, dass dieses leckere Exemplar sie augenblicklich aus der Fassung brachte. Allein seine Anwesenheit ließ sie feucht werden.
Er kniete sich neben die schreiende Göre. »Violetta, Schatz, du weißt doch, dass nur brave Mädchen Geschenke bekommen.«
Erst in diesem Moment fiel Anne auf, dass Violetta aufgehört hatte zu schreien. Mucksmäuschenstill stand sie da, eine Hand noch immer in dem Jutesack verkrallt, und sah dem Typ wie hypnotisiert ins Gesicht.
Frau Melcher hatte sich wieder auf den Stuhl neben dem Tannenbaum gesetzt, während Herr Melcher den Raum verließ, vermutlich, um sich alkoholischen Nachschub zu besorgen.
Anne schaffte es endlich wieder, ihren Mund zu schließen. Siewollte etwas sagen, aber sie war einfach nicht in der Lage, ihre Gedanken in Worte zu fassen.
»Ich bin Marc, der Cousin«, stellte sich der Typ vor.
»Aha«, sagte Anne nur. Als ihr schließlich bewusst wurde, dass sie ihn schon viel zu lange und viel zu intensiv angestarrt hatte, senkte sie den Blick. Sie fühlte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. Aus Verlegenheit und um sich irgendwie anderweitig zu beschäftigen, öffnete sie den Jutesack und holte das erste Geschenk hervor.
Violetta wartete gar nicht, bis Anne es ihr übergab. Wie eine hungrige Bestie schnappte sie danach, presste es an ihre kleine Brust und rannte zu ihrer Mutter. Dort warf sie sich auf die Knie und riss das Geschenkpapier ungeduldig auf.
Anne beobachtete das alles wie einen skurrilen Film, der da vor ihren Augen ablief.
»Nettes Kleidchen«, hörte sie Marc sagen.
Sie wagte es, sich ihm wieder zuzuwenden und mit einem schüchternen »Danke« zu antworten.
»Ist das nicht ein wenig knapp, um den Weihnachtsengel für Kinder zu spielen?« Sein Grinsen war anzüglich, aber in seinem Fall störte das Anne überhaupt nicht. Sie genoss seine Blicke vielmehr.
»Normalerweise arbeiten wir nicht für solch junge Kundschaft«, flüsterte Anne, wohl darauf bedacht, dass Violetta sie nicht hören konnte. Aber vermutlich hätte sie genauso gut lautstark schreien können. Das Mädchen interessierte sich offenbar nur für sich selbst. Ohne es zu bemerken, schüttelte Anne darüber den Kopf.
»Ja, ich weiß, sie ist schrecklich verzogen«, sagte Marc lachend. Er nahm ihr den Jutesack ab und stellte ihn neben Violetta auf den Boden. Die stürzte sich sogleich auf die weiteren Geschenke.
Dann kam Marc wieder zu Anne, hakte sich bei ihr unter und führte sie aus dem Wohnzimmer.
»Es war eine dumme Idee, einen Weihnachtsengel für sie zuengagieren«, stellte er fest. »Aber ich bin trotzdem froh, dass
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