Süßer die Glocken (German Edition)
durfte.
Sofort, Kinder, wird‘s was geben.
Mit Frust schleuderte die Tür gegen die Wand. Der Professor rief überrascht aus, der Mann am Fenster fuhr herum, Jay feuerte.
Als das Knallen der Schüsse verhallte, nahm Jay wahr, wie der Körper des Terroristen mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Boden zusammenbrach. In der darauf folgenden Sekunde der absoluten Stille, in die nicht einmal sein Herz hineinzuschlagen wagte, tönte das Schellen des Weinglases. Eindringlich, lärmend, brachial.
Mit einem Stöhnen durch die gepressten Lippen rutschte der Professor von der Sitzfläche herunter. Die kleinen Räder des Bürostuhls ratterten über das Parkett, bis die Lehne gegen den Schreibtisch stieß.
Viel zu schnell breitete sich der Blutfleck auf dem karierten Hemd aus. Der Geiselnehmer musste es geschafft haben, auf den Abzug zu drücken und sein Opfer zu treffen.
»Professor Kurkov?« Er kniete sich hin und presste gegen die Wunde. »Der Mikrochip. Wo ist er?«
Die bleichen Lippen zitterten, als die Worte röchelnd zwischen sie stießen: »Es ist nicht unser Kampf, Jay.«
»Woher … kennen Sie meinen Namen?«
»Wir alle sind hier nur Geiseln. Ich, du …«, sein Kopf fiel zur Seite und der leere Blick erfasste den Terroristen, »… Luan.«
»Professor, hören Sie …«
Die kalten, unangenehm trockenen Finger griffen nach seinemHandgelenk und verschmierten die Wärme des Blutes über seine Haut.
»Wir können es ändern!«, ächzte der Professor und ein Bluttropfen kroch ihm aus einem Mundwinkel die Wange herunter. »Der Mikrochip ist der Schlüssel zu unserer Freiheit.«
»Wo ist er?« Jay rüttelte den Mann an der Schulter. Doch die Finger erschlafften und die Hand des Professors glitt am Körper zu Boden.
Ein Blick auf den Countdown seiner Armbanduhr. Die Zeit, Sekunde für Sekunde, lief ihm und der gesamten Welt davon. Nur noch vierzig Minuten. Dann würden die vom Virus befallenen Geräte – angefangen mit Computern der NASA bis zum letzten Kaffeevollautomaten – nach eigenen Regeln spielen und nichts, absolut nichts könnte das binäre Armageddon noch stoppen. Wer Kurkovs Programm besaß, hielt die Zukunft des gesamten Planeten in den Händen. Leider wussten das auch die Terroristen.
Er kam auf die Beine. Das fremde Blut an seiner Haut kühlte ab. Seltsam. Er konnte sich nicht erinnern, den Tod jemals so nah empfunden zu haben.
Eine fremde Kraft trieb ihn in den Flur, lenkte präzise seine Bewegungen. Eine Wendung nach rechts – Feuer! – und einer der Terroristen stürzte zu Boden. Weiter den Korridor entlang, umdrehen, schießen – der Maskierte auf der Treppe polterte die Stufen herunter. Er hörte, wie die Knochen im leblosen Körper brachen. Der Tod – überall. Viel zu nah. Viel zu unerträglich.
Durch die Zielvorrichtung visierte er eines der Zimmer an, trat die Tür auf und stürmte hinein. Mit zwei weiteren Schritten stand er in einem festlich geschmückten Saal, als wäre er in ein Bilderbuch hineingestolpert.
Vadim kniete unter dem Tannenbaum, den Kopf gesenkt. Girlanden, purpurrote Schleifen und unzählige Leuchtketten beschwerten die buschigen Zweige. In den gefalteten Händen des Jungen lag eine rote Weihnachtskugel. Vadim schaute auf. Die Augen auf seinemspitzen Gesicht bedachten Jay mit einem nachdenklichen Blick. »Bin ich es wirklich, der sich darin widerspiegelt, Jay?«
»Verflucht, woher …«
»Nein«, tönte eine melodische Stimme aus dem Dunkeln und ließ seine Gedanken stocken auf der Haut kribbeln, »bist du nicht.«
Die Lichterketten erstrahlten und tauchten den Raum in einen goldenen Schein. Hinter dem Baum trat eine Frau hervor. Die Nadelzweige schabten über ihre Hüfte und der Baumschmuck verabschiedete sich mit einem leisen Klirren.
Das Leder ihrer eng anliegenden Hose knarzte, als sie auf ihren Stilettos über das Parkett trat und zu schweben schien. Jede Bewegung ihres schmalen Körpers ließ die rosafarbenen Pailletten auf ihrem Oberteil aufglitzern, die in einer geschwungenen Schrift verkündeten –
Bad Girl!
Der Name ließ ihn auch nach drei Jahren immer noch schweißgebadet aufwachen, das Herz rasen, die Kehle zuschnüren. Aber wie konnte er ihren Atem an seiner Wange vergessen, als sie ihm ein ›Mach‘s gut‹ entgegen gehaucht und auf Nimmerwiedersehen verschwunden war? Jetzt stand er ihr erneut gegenüber und dachte daran …
… wie seine Hand in ihr schweres Haar tauchte, um die glatten Strähnen zwischen den Fingern gleiten zu lassen.
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