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Süßer König Jesus (German Edition)

Süßer König Jesus (German Edition)

Titel: Süßer König Jesus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Miller
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Las-Vegas-Mädchen.
    Meine Finger suchten die Arterie. »Nein.«
    Ein Krankenwagen fuhr vor, ein Sanitäter scheuchte uns aus dem Weg. Dann kamen Polizei und Feuerwehr, und wir wurden weiter und weiter abgedrängt, bis wir nicht mehr Teil des Ganzen waren.
    Wir standen bei den anderen, sahen zu, wie sie auf Krankentragen gehoben wurden. Der Mann aus dem weißen Wagen wurde mit einem Tuch zugedeckt. Meine Mutter und Elise weinten. Das Las-Vegas-Mädchen berührte meine Schwester am Arm, und dann fielen sie einander um den Hals. Das kam mir merkwürdig vor. Ich versuchte den Blick meiner Schwester zu erhaschen, aber sie sah mich nicht an.
    Ich hörte, wie manche Leute versuchten, sich klarzumachen, was geschehen war, indem sie es Leuten, die neu hinzukamen, erklärten. Sie verfälschten es bereits. Wir hatten es aus nächster Nähe gesehen – wir hatten den besten Blick darauf gehabt, und mein Gefühl sagte mir, dass wir gefragt werden sollten. Das Cabrio war nicht zur Tankstelle abgebogen. Beide Wagen waren geradeaus gefahren, aneinander vorbei, bis das Cabrio plötzlich einen Schlenker machte und dem Mann im weißen Wagen, der jetzt tot war, in die Quere kam. Er, so hatte ich entschieden, wollte gerade irgendeine Kleinigkeit besorgen, irgendwas total Überflüssiges. Vielleicht war das Überflüssige ja auch gar nicht für ihn selbst gedacht, sondern für seine Freundin, die Frau, die er nicht genug liebte, um sie zu heiraten, vielleicht hatte er ihr angeboten, es für sie zu besorgen.
    Wir standen noch zehn Minuten herum, warteten, ob irgendjemand noch etwas wissen wollte von uns, aber keiner kam. Wir stiegen wieder in unser Auto. Elise weinte immer noch. Ich weinte selten, und die Tränen anderer überraschten mich immer, jetzt allerdings überraschten sie mich nicht; überraschend war höchstens meine eigene Tränenlosigkeit. Warum empfand ich nicht wie die anderen? Die Menschen waren mir schließlich nicht gleichgültig. Nur, dass ich mich vielleicht schwertat, sie wirklich für wirklich zu halten.
    Irgendwo hatte ich gelesen, es sei Zeichen einer psychischen Krankheit, wenn einem die Menschen gleichgültig waren, aber ich fühlte mich nicht psychisch krank.
    »An mir klebt Blut«, sagte mein Vater, hob die Hände und drehte sie langsam. Es erinnerte mich an diese Szene in Back to the Future , in der Michael J. Fox verschwindet, weil seine Eltern sich nicht geküsst haben und er folglich nicht geboren werden wird. Er stieg aus dem Wagen und ging rein. Ich schaute auf meine Hände – sie sahen sauber aus, obwohl ich einen blutüberströmten toten Mann angefasst hatte. An mir klebte ein toter Mann.
    ***
    Mein Vater fuhr zehn Minuten lang in die falsche Richtung und keiner sagte ein Wort. Ich dachte an das Mädchen, vielleicht war sie keine Japanerin, vielleicht war sie Chinesin oder Koreanerin. Warum hatte ich sie für eine Japanerin gehalten? Ich kannte gar keine Japaner.
    Schließlich wies Elise auf eine Metzgerei hin, an der wir schon einmal vorbeigefahren waren.
    »Wo ist die Karte?«, fragte mein Vater.
    Meine Mutter faltete und faltete sie auseinander, bis sie den ganzen vorderen Sitz bedeckte. Ich sah den Hinterkopf meiner Mutter, das dünne, auftoupierte Haar. Ich hatte ihre Haare – fein und erpicht darauf auszufallen; wir mussten uns bücken und kopfüber bürsten, um normal auszusehen. Elises Haar war lang und dick, und sie trug es fast immer zum Zopf geflochten oder als Pferdeschwanz, damit es ihr nicht ins Gesicht fiel.
    »Wir müssen auf die 90«, sagte meine Mutter, während mein Vater weiter in die Richtung fuhr, aus der wir gekommen waren.
    »Sag mir, wo ich wenden kann«, sagte er.
    »Ich glaube, hier lang.«
    »Sag mir einfach, wo wenden.«
    »Der Navi ist im Mittelfach, sagte Elise, aber unser Vater wollte nicht von einer Maschine gesagt bekommen, was er zu tun habe. Bog er zu früh ab oder zu spät – wen würde dann die Schuld treffen?
    »Hier«, sagte unsere Mutter, »jetzt.«
    Er riss das Lenkrad rum und bog nach links ab in die Ausfahrt.
    »Haben wir irgendwo Erfrischungstücher?«, fragte ich. »Ich hätte mir die Hände waschen sollen.«
    »Allerdings«, sagte Elise. »Sie hat ihn angefasst.«
    »Ich habe den Puls gesucht.«
    Meine Mutter kramte im Handschuhfach, warf mir ein Päckchen zu, das schon lange offen war. Die Tücher waren trocken, aber ich wischte mir trotzdem die Hände damit ab.
    »Gib mir mal die Karte«, sagte Elise.
    Unsere Mutter reichte ihr die Karte nach hinten und

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