Süßer König Jesus (German Edition)
weiß ja nicht.«
»Ich bin sicher, da draußen laufen auch ’ne Menge hässlicher Atheisten rum«, sagte ich.
»Wenigstens die Haare könnte sie sich färben – sie ist erst fünfzig oder so. Vielleicht auch vierzig.«
»Manchen Frauen ist es nicht so wichtig, schön zu sein.«
Sie sah mich an, als sei ich geistesgestört. »Am besten von allen müssten eigentlich die Agnostiker aussehen«, sagte sie. »Extremisten verlassen sich zu sehr auf ihren Extremismus.
Ich ging rein, zappte durch die Programme, bis ich Honey, I Shrunk the Kids fand – und grade lief meine Lieblingsszene, die, in der die Kinder im Gras verloren gehen. Sie waren so klein, ein Bächlein Hundepipi war ein Fluss für sie, und ein Ameisenbaby entsprach der Größe eines Volkswagens. So klein, dass sie sich jahrelang von einem Stück Hafercremetorte ernähren konnten. Davon träumte jedes Kind, etwa so, wie jedes Kind im Wald ein Zuckerhaus finden möchte. Der ältere Junge, Klein Russ, war trotz seiner Achtzigerjahre-Frisur richtig heiß, und ich hätte am liebsten in einem Legostein geschlafen, während er meinen Schlaf bewachte. Nein – eigentlich wollte ich sogar, dass er seine Aufsichtspflicht vergisst und zu mir in den Legostein klettert. Ich wollte mit meinen Fingern durch sein weiches Federhaar streichen.
Ich wollte Elise holen, doch sie war verschwunden. Im Zimmer des Glatzkopfs waren die Lichter aus, und ich stellte mir vor, wie die Frau rittlings auf ihm saß und er ihre Hüften hielt und sie sachte vor- und zurückschaukelte. Zu Hause hatten wir eine mehrbändige Enzyklopädie, die meiner Mutter gehörte, und ich las immer und immer wieder, was unter SEX stand: Ein Mann und eine Frau liegen nebeneinander, und der Mann steckt seinen Penis in die Vagina der Frau. Dies ist normalerweise lustvoll für beide Parteien . Es war das Schmutzigste, an das ich rankam. Privatsender kriegten wir nicht, und auf meinem Computer schaute ich keine Pornos, weil ich vielleicht vergessen würde, den Verlauf zu löschen. Natürlich würde ich es nie und nimmer vergessen, aber allein die Möglichkeit, es zu vergessen, bedeutete eine nicht überlebbare Schmach.
***
Wenn sie lächelte und das Haar offen trug, sah meine Mutter fast mädchenhaft aus. Flüchtig sah sie zu meinem Vater auf, und er beugte sich herab und küsste sie auf den Kopf. Hin und wieder erhielt ich Einblick in ihre Welt, und ich fand es schade, dass ich nie dazugehören würde, sie nie so kennen konnte, wie sie einander kannten. Jeder von uns kannte jeden von uns auf so unterschiedliche Art, dass es nie zu Überschneidungen kam.
»Wo ist Elise?«, fragte mein Vater.
»Ich glaube, sie ist zum Laden gegangen«, sagte ich.
»Was tust du so allein hier draußen?«, fragte meine Mutter.
Ich zuckte die Schultern. »Der Mond ist so schön.«
Wir schauten alle hoch zu ihm, er war groß und sah künstlich aus, Wolken schlängelten sich quer über ihn hinweg. Mein Vater hatte ein Buch mit dem Titel Wir waren nie auf dem Mond: Amerikas Dreißig-Milliarden-Dollar-Schwindel , aus dem er gern zitierte. Da wurde behauptet, die Mondlandung habe in Wirklichkeit in Nevada stattgefunden, und die Astronauten hätten in den Drehpausen Strip-Lokale besucht. Elise zeigte mir ein doppelseitiges Foto einer exotischen Tänzerin, als Beweis für die Idiotie unseres Vaters. Er glaube an nichts als an Gott, daran hielt er fest, als käme der Glaube an etwas anderes – die Mondlandung oder die Erderwärmung – einer Untreue gleich.
Meine Mutter öffnete die Tür, und ich zog die Schuhe aus und legte mich ins Bett. Ich sah zu, wie mein Vater eine Hülle aus seiner Reisetasche zog. Er faltete den Gebetsteppich aus violett-orangenem Papier auseinander und kniete, das Gesicht zum Fenster, nieder. Vor unserer Abreise hatte er gesagt, jeder von uns solle irgendwann mal drauf knien und die eigenen Gebetsanliegen einkringeln, und dann würde er ihn an eine andere Familie schicken und die würde ihn auch weiterschicken, wie einen Kettenbrief.
Ich hatte mich in der ersten Nacht draufgekniet und war jedes einzelne meiner Anliegen durchgegangen: geistige Erweckung, Demut, finanzielle Fragen, Versuchungen, Gesundheit und Wohlbefinden, Stress und Angst und Erlösung.
Auf einer Seite des Teppichs war das Gesicht Jesu abgebildet. Seine Augen waren geschlossen, aber es hieß, wenn man sie lange genug anschaute, öffneten sie sich. Für mich hatten sie sich nicht geöffnet, und ich fragte mich, ob sie sich für
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