Süßer König Jesus (German Edition)
wert. Ich hatte das Gefühl, ich müsste das Verhalten meines Vaters und meiner Schwester wiedergutmachen. Mir war nicht klar, warum diese Bürde ausgerechnet mir zugefallen war, warum gerade ich diejenige war, die nicht sie selber sein konnte, aber so war es schon immer gewesen.
Der Mann und die Frau beäugten uns, während sie ihre Zigaretten rauchten und über eine Frau namens Tammy redeten. Wir erfuhren alles über Tammy. Sie hatte zwei Kinder und zwei Liebhaber: einen bösen, einen guten. Sie war im Entzug gewesen, im Gefängnis, und vor kurzem in der Psychiatrie. Jetzt war sie draußen, und der Kreislauf begann von vorn. Sie hatte einen miesen Freund und ging nicht ans Telefon. Ihre Kinder würden ihr endgültig weggenommen werden. Ich hatte immer gedacht, dass Pechsträhnen sich verkehrten, aber das Leben mancher Leute schien aus nichts als Pechsträhnen ohne jede Kehrtwende zu bestehen. Ich nahm die Hand meiner Mutter. Kaum hielt ich sie, wusste ich nichts damit anzufangen, deshalb suchte ich sie nach Zeichen des Alterns ab. Sie wirkte gar nicht übermäßig alt. Die Knochen unter der Haut fühlten sich gut an. Ich drehte sie um und verfolgte ihre Kopflinie, ihre Herzenslinie. Ihre Lebenslinie war schwach ausgeprägt und schlich sich in der Mitte der Handfläche aus.
»Wärst du lieber wieder katholisch?«, fragte ich.
»Gott kümmert es nicht, wie du ihn verehrst, solange du in die Kirche gehst.«
»Aber Katholiken sind anders.«
»Sie sind Christen«, sagte sie, »wie wir.«
»Dad sieht das anders.«
»Ich weiß.« Sie legte ihren Arm um mich.
»Ich liebe dich«, sagte ich.
»Ich liebe dich auch«, sagte sie.
Wir sagten sehr oft »ich liebe dich«, ich sah darin nie etwas Besonderes, bis meine Mutter erzählte, in der Familie, in der sie aufgewachsen sei, habe man es nie gesagt. Ihr Vater starb, und sie hatte es nicht ein einziges Mal aus seinem Mund gehört. Merkwürdig, dass Worte, die einem so locker über die Lippen gehen, auch tabu sein können.
Ich wollte gerade meinen Vater holen, da entdeckten wir das Auto. Die Scheinwerfer kamen näher und näher, dann hielt Jimmy genau vor uns, und meine Schwester stieg aus. Der Mann schaute uns durch die Windschutzscheibe an. Er war alt, mindestens vierzig, und sah nicht aus wie einer, mit dem Elise freiwillig mitgegangen wäre.
Während meine Mutter mit hängenden Schultern dastand, zog mich meine Schwester in die Bar. Sie führte mich nach hinten zur Toilette und schloss die Tür hinter uns ab. Die Toilette war ein Raum mit zwei Klos, ohne Trennwände. Alle Wände waren vollgekritzelt: Frauengesichter, Schwänze und Schnapsflaschen, Katzen und Regenbögen und Ballons. Mein Blick fiel auf einen mit blauem Filzstift geschriebenen Satz: Wenn du das liest, solltest du jetzt nach Hause gehen. Und dann, unten drunter in großen Druckbuchstaben, LIEBT EINANDER . Das fiel mir sofort auf, weil ich es für ungeheuer tiefsinnig hielt – liebt einander. Es schien so einfach. Ich war fast nie nett zu den Leuten, weil ich vor ihnen Angst hatte. Dass jemand meine Liebe brauchen oder wollen könnte, kam mir absurd vor.
Eine rote Glühbirne überm Waschbecken verlieh dem Raum eine unheimliche Atmosphäre, es war, als würden wir gefilmt werden: langsam folgte das Kameraauge unseren Bewegungen. Ich erinnerte mich an eine Fernsehsendung: Sieben Leute wurden gekidnappt und unter Drogen gesetzt. Sie erwachten in unterschiedlichen Hotelzimmern auf demselben Stockwerk. Sie konnten die Zimmer nicht verlassen, eh sie nicht die Zimmerschlüssel gefunden hatten. Die waren in die Bibeln eingeklebt. Und um selbst zu überleben, mussten sie die anderen sechs Teilnehmer umbringen.
»Ich wollte nur wissen, ob Mama sehr sauer ist«, sagte sie.
»Stocksauer«, sagte ich. »Richtig wütend. Warum bringst du so was?«
Sie zog ihre Shorts runter und setzte sich auf eines der Klos. »Was hab ich denn gemacht?«
»Benimmst dich wie ein Idiot.«
»Nenn mich nicht Idiot«, sagte sie. »Ich bin kein Idiot. Du bist der Idiot.«
»Mama hat vor den Leuten geweint«, sagte ich.
Elise war so betrunken, dass ihr ihre Gesichtsmuskeln immer wieder entglitten und unter der Haut pulsierten. Sobald sie ihre Shorts hochgezogen hatte, öffnete ich die Tür. Da stand der Barmann und hinter ihm: unsere Mutter.
»Raus hier«, sagte er, und Elise begann zu schreien, wir seien ja längst am Gehen.
»Tut mir leid«, sagte ich.
»Was tut dir leid?«, sagte Elise. »Du entschuldigst dich ständig
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