Süßer Tod
»Schon.«
Er quittierte ihr Zögern mit einer hochgezogenen Braue. »Ich weiß, wie Leidenschaft klingt, und das ist keine.« Er sah sie lange an, und sie musste plötzlich an die hungrigen, erotischen Laute denken, die am Vorvorabend sein Schlafzimmer erfüllt hatten.
Sie wandte den Blick ab und fragte leise: »Soll ich dir ein Geheimnis verraten, Raley?«
»Hmm.«
»Wirklich? Denn wenn ich es dir erzähle, muss ich dich umbringen.«
Er lächelte.
»Shelley Britt Hagen.«
Er sah sie verständnislos an. »Okay.«
»Das ist mein wirklicher Name. Aber inzwischen vergesse ich manchmal, dass ich nicht als Britt Shelley geboren wurde, weil ich mir das Pseudonym schon zugelegt hatte, bevor ich meinen Collegeabschluss geschafft habe.«
»Um dieses Geheimnis zu bewahren, brauchst du mich wirklich nicht umzubringen.«
»Das ist es nicht.«
»Ach was. Du hast eines, das noch dunkler ist?«
»Mhm.«
»Was es auch sein mag, bei mir ist es gut aufgehoben.«
Er sagte das ganz ernst. Sie sah ihn offen an und erklärte: »Davon bin ich überzeugt.«
Wahrscheinlich war seine Loyalität eine seiner stärksten Eigenschaften. So gesehen war Sturköpfigkeit ein Plus, kein Manko. Falls ihm jemand ein Geheimnis anvertraute, würde er es mit ins Grab nehmen. Eine Verpflichtung war stets eine Verpflichtung auf Lebenszeit. Er wäre einer Frau immer treu.
Ehrlich gesagt hielt sie es für ziemlich töricht von Hallie, dass sie auch nur eine Sekunde lang geglaubt hatte, er hätte sich nicht beherrschen können, als er mit Suzi Monroe zusammen gewesen war. Sein Körper hatte einwandfrei funktioniert, aber sein Hirn war ausgeschaltet worden. Auf gar keinen Fall war sein Herz beteiligt gewesen. Hätte ihn seine Verlobte wirklich geliebt und ihn auch nur halbwegs gekannt, dann hätte sie seine Erklärung ohne nachzufragen akzeptiert.
Andererseits hatte auch sie ihn schuldig gesprochen, oder nicht? Sie hatte nichts von dem angezweifelt, was Jay ihr damals erzählt hatte, sondern bereitwillig das Schlimmste von Raley Gannon angenommen, ohne dass sie auch nur einmal mit ihm gesprochen
hatte. Als er ihren Mikrofonen und Kameras ausgewichen war, hatte sie das als halbes Geständnis genommen und in einem weiteren Schritt ihr Publikum ebenfalls von seiner Schuld überzeugt.
Fünf Jahre lang hatte ihm diese offene Ermittlung keine Ruhe gelassen. Er hatte die Last von acht unaufgeklärten Morden auf seinen Schultern getragen. Traurig und beschämt musste sich Britt eingestehen, dass sie zumindest teilweise dafür verantwortlich war.
»Bitte verzeih mir, Raley.«
»Was denn?«
»Meine voreingenommene Berichterstattung.«
»Dafür hast du dich schon entschuldigt.«
»Schon, aber da war ich nicht völlig aufrichtig. Ich wollte dir weitere Informationen entlocken. Ich wollte diese neue, noch größere Story, und ich wollte in deiner Nähe bleiben, bis ich sie hatte. Diesmal meine ich meine Entschuldigung ernst.«
Nach ein, zwei Herzschlägen fragte er: »Und das ist dein großes Geheimnis?«
»Nein.« Sie holte tief Luft und drehte sich auf den Rücken. »Mein Geheimnis ist, dass man mir Jobs in größeren Städten angeboten hat. Einmal sogar bei einem landesweiten Sender. Als freie Reporterin für die Wochenenden, trotzdem wäre es ein guter Anfang gewesen. Ich habe jedes Mal abgelehnt.«
»Warum das?«
»Versagensangst.«
Sie sah ihn kurz an und richtete den Blick gleich wieder zur Decke. »Ich habe dich als Feigling beschimpft, aber in Wahrheit bin ich viel feiger als du. Ich fürchte mich davor, meinen kleinen Teich zu verlassen, wo ich als dicker Fisch gelte. Auf einem größeren Markt wäre auch die Konkurrenz stärker. Man würde mehr von mir erwarten. Und wenn ich scheitern würde? Wenn ich mich total zum Narren machen würde? Darum habe ich jedes Angebot abgelehnt, das mir mein Agent unterbreitet hat.
Ich hatte immer einen guten Grund vorzuweisen, aber letzten Endes hatte ich einfach Angst, den Status aufzugeben, den ich hier genieße. Irgendwo anders könnte ich feststellen, dass ich nur durchschnittlich bin, und was dann?
Seit ich achtzehn bin, arbeite ich ohne Netz, das hat mir bis jetzt nur genützt. Ich bin unabhängig und selbstgenügsam. Wenn alles gut läuft, rede ich mir ein, dass ich nach den Sternen greifen könnte. Aber wenn es mir irgendwann den Boden unter den Füßen wegziehen würde, hätte ich niemanden, der mich auffängt, und sei es nur vorübergehend, wenigstens so lange, bis ich wieder auf die Füße
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