Süßes Gift und bittere Orangen: Historischer Kriminalroman
Holzscheit. Der schnaufte nicht. Der redete nicht. Ich nenne es tot sein. Tot ist er doch, oder?«
Auf Sabinas Geheiß sah Weißenfelder am Toten nach dem Wappen ihres Sohnes: Er fand es einmal am Gürtel und einmal auf dem Rücken des Kapuzenumhanges. Den Brief entdeckte er nicht, auch nicht später beim Pferd des Toten.
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Über den alten Dürnitz , den ersten großen Speisesaal im Schloss, betrat die herzogliche Familie, gefolgt nur von Widmannstetter, die Sankt-Georgs-Kapelle, ein hohes Heiligtum für jeden Wittelsbacher. Dort versanken sie in ein langes Gebet.
Anna Lucretia liebte diesen Ort, der die Handschrift ihres Vaters trug. Ludwig hatte an seinem ersten Regierungstag begonnen, ihn auf das Schönste umzugestalten. Ihm verdankte die Kapelle ihre herrlich warmen Farben, korallenrot und ockergelb, ihr Rosenholz, ihr luftiges Netzrippengewölbe und das wunderschöne Oratorium auf der Westempore. Von hier oben lächelten Anna Lucretias Lieblingsfiguren, die Heiligen Katharina und Barbara, zwei anmutige Jungfrauen mit freiem, goldenem Haar und einfachem, doch fein bemalten Gewand unter einem mächtigen Baldachin. Als kleines Mädchen hatte sie stets zu ihnen emporgesehen, wenn sie sich, selten genug, auf der Trausnitz aufhalten durfte. Ludwig war ihr ein liebevoll aufmerksamer Vater gewesen, doch war sie ein uneheliches Kind. Noch bis vor Kurzem wurde permanent verhandelt über eine vorteilhafte Heirat für den mitregierenden bayerischen Herzog in Landshut. Da sollte kein Gesandter einer hochgeborenen Zukünftigen Anna Lucretia zu Gesicht bekommen. Ludwig sah diese Versuche gelassen. Nach Anna Lucretias Mutter hatte eine andere schöne Landshuterin sein Herz erobert und erfolgreich behauptet. Diese legte wenig Wert darauf, das Kind ihrer Vorgängerin bei Hof zu sehen, wo sie selbst offiziell nur Gast war.
So wuchs das Mädchen nach der Heirat ihrer Mutter in der Obhut ihrer treuen Amme Grete auf dem Schlösschen Leonsperg in der Nähe Landshuts auf, nach dem sie bald genannt wurde. »Margareta mit dem Wurm, Barbara mit dem Turm, Katharina mit dem Radl, das sind die drei heiligen Madln« – das war das Schlaflied ihrer Kindheit nach dem Abendgebet mit Grete gewesen. Die heilige Margareta in der Person der wortkargen Amme stand ihr – so dachte sie – leibhaftig zur Seite. Den zwei anderen heiligen Jungfrauen hatte sie umso mehr nachgeeifert. »Lieber Gott, lass mich so gelehrt werden wie die heilige Katharina! Lieber Gott, lass mich so tugendhaft sein wie die heilige Barbara!« Das gelang ihr leicht. Ludwig ließ den Wissensdurst seiner Tochter uneingeschränkt befriedigen. Sie bekam Unterricht in Geschichte, in Musik und Zeichenkunst, lernte Latein und Griechisch, sprach italienisch so gut wie französisch. In dieser Hinsicht wurde der Makel der Unehelichkeit ihr Glück. Einer für eine frühe Hochzeit und das Gebären möglichst vieler Nachkommen bestimmten Herzogstochter hätte man eine solche Erziehung nur schwer zugestanden. Über ihr Streben nach Tugend schmunzelte Ludwig, kritisierte es aber niemals. Von ihm bekam sie den zärtlichen Beinamen Lucretia. Endlich durfte sie ständig auf der Trausnitz wohnen. Sabina setzte sich dafür ein, nachdem sie ihre bisher versteckt gehaltene Nichte endlich kennengelernt hatte. Dann kam Johann Albrecht Widmannstetter als Berater für die neue Stadtresidenz. Schnell merkten dieser und der Herzog, dass die inzwischen hochgebildete Tochter die Planung für den italienischen Bau nicht nur genau verfolgte, sondern auch erstaunlich oft befruchtete. Aus der gegenseitigen Bewunderung erwuchs alsbald Liebe zwischen der damals 16-Jährigen und dem 17 Jahre älteren Widmannstetter. Ja, es war nicht schwierig gewesen, ihre Bemühungen wurden belohnt.
Nun aber verspürte Anna Lucretia Angst. War alles zu einfach gewesen? Auch der Tod ihrer geliebten Amme im letzten Frühling hatte ihr Vertrauen in ein gütiges Schicksal nicht getrübt. Ihr kam zum ersten Mal in den Sinn, dass ihre lächelnden Vorbilder aus dem Emporenhimmelreich, Katharina und Barbara, sich den Heiligenschein durch den Märtyrertod oder schmerzhafteste Prüfungen verdient hatten. Auch davon hatte Grete nie gesprochen. Plötzlich erschrak sie auch über ihren bisher geliebten Beinamen. Natürlich wusste sie, warum ihr Vater sie immer etwas verschmitzt so nannte. Mit der römischen Heldenmatrone, die nach ihrer Vergewaltigung den Freitod wählte, hatte sie wahrlich nichts gemein. Was wäre, falls es doch
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