Süßes Gift und bittere Orangen: Historischer Kriminalroman
sicher keine Zeit gehabt, sie zu sehen oder nicht verstanden, dass sie hier unten leibhaftig auf ihn wartete. Dicke Tränen brannten auf ihren eiskalten Wangen. Sie hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.
Eine starke Hand auf ihrem Mund erstickte ihren Schrei. Blind vor Tränen, taub vor Angst kämpfte sie gegen einen aus dem Nichts aufgetauchten Schatten. Endlich, als sei sie aus einem höllischen Albtraum aufgewacht, vernahm sie ihren Namen.
»Anna, Anna Lucretia, ich bin es, Johann Albrecht, ruhig jetzt, bitte! Komm schnell, wir können hier nicht bleiben. Hierher, ganz still, liebes Kind!«
Mit aller Kraft zog er sie ins Brunnenhaus, das einzige Refugium an der inneren Burgmauer zwischen Turm und Schlosspflegerhaus, wo sie endlich zur Besinnung kam.
»Oh Gott! Was habe ich getan? Ich muss sofort zurück.«
Aus dem Tiefbrunnen, einem schwindelerregenden Schacht, der vom Burgberg das Isartal fast 400 Fuß tiefer erreichte, stieg etwas empor wie der eisig-modrige Atem eines riesigen Wassertieres. Anna Lucretia meinte, in dem schwarzen, leise rauschenden Loch vor ihren Augen die eigene Seele zu sehen.
»Liebstes Kind, bitte schau mich an!« Widmannstetter stellte seine brennende Öllampe auf den Brunnenrand. »Du musst keine Angst haben. Nicht vor mir, das schwöre ich dir. Niemals!«
Er duzte sie. Das war neu. Sie wusste nicht, ob das ersehnte Wort ihren Schmerz linderte oder noch vertiefte. Sie fühlte sich so verloren. Nie, unter keinen Umständen hätte ihr erster Moment der Zweisamkeit so verlaufen sollen. Trotzig senkte sie den Kopf.
»Ich habe keine Angst.«
Widmannstetter konnte ein gerührtes Lachen nicht zurückhalten.
»Wer hat gemeint, du würdest dich fürchten, Liebes? Ich habe nur gesagt, du musst dich vor mir nicht ängstigen. Schön, dass du mir glaubst.«
Anna Lucretia lächelte. Johann Albrecht nahm ihr gesenktes Kinn zwischen die Finger seiner rechten Hand und hob ihren Kopf hoch. Sie standen sich genau gegenüber, Gesicht an Gesicht, da er genauso groß war wie sie.
»Ich glaube dir, obwohl du zitterst, als stünde der Leibhaftige vor dir. Da es nicht die Angst ist: Weshalb erzitterst du, mein Seelchen? Ist dir kalt? Bist du wütend? Das musst du nicht sein.«
Wieder wurde es dunkel vor ihren Augen. Sie spürte, wie er sie unter seinen schweren Umhang zog, wie ihre bloßen Hände, ja ihr ganzer Körper die unerwartete Wärme genossen – und dann, wie ihre Lippen, ihr Gesicht, ihre Haut, ihr Herz, ihr Bauch in Flammen standen, weil er seinen Mund unaufhaltsam voller Leidenschaft auf ihren presste. Stumm schrie etwas in ihr. Der feste, entschlossene Mund Johann Albrechts ließ sie nicht los. Verzweifelt stemmte sie sich gegen ihn – diesem Flammenmeer musste sie entkommen. Er ließ sie nicht los; erwies sich als viel kräftiger, als seine zierliche Figur es ihm zu erlauben schien. Sie glühte, die Flammen verzehrten sie. Sie empfand keinen Schmerz, nur die ihr unverständliche, empörende Begierde, noch mehr von ihr auf diesen Scheiterhaufen zu werfen; das Verlangen, ihr Fleisch möge platzen, um dann besser, freier, heißer zu brennen. Doch der Brand in ihr steigerte gleichzeitig ihre Wut ins Unermessliche. Als er dachte, sie würde den Kuss erwidern, weil sie den Mund öffnete und ihre Körperspannung nachließ, stieß sie ihn heftig von sich weg.
»Schluss, sofort! Was glaubst du denn? So einfach ist es nicht mit mir.«
Genauso schnell, wie sie sich befreit hatte, packte er wieder ihre Hände. Auch sie hatte ihn geduzt, das allein zählte.
»Warum denn nicht, meine weise Lucretia? Du zweifelst an mir. Ich sage dir: Das musst du nicht. Es ist sehr einfach. Deswegen sind wir beide so verrückt, dass wir uns mitten in der Nacht und bei dieser Kälte hier gegenüberstehen.«
»Genauso verrückt wie alle Weiber vor mir, bei denen du nicht geblieben bist nach den feurig-süßen Stunden. Kennst du die Liebesrezepte so gut wie die römischen Gottheiten?«
Anna Lucretia hasste sich für diese Bemerkung, sobald sie aus ihrem Mund gekommen war. Weise? Tugendhaft? Das würde sie nach diesem Kuss nie wieder von sich denken können … von dem Mann, der ihr gerade die Knochen der Hände zermalmte, ganz zu schweigen. Schwere Tränen rollten über ihre glühenden Wangen. Zwei davon küsste er rasch weg. Anna Lucretia begann zu verstehen, warum in Landshut erzählt wurde, man solle sich mit dem Doktor Widmannstetter nicht anlegen, da er mit dem Seitschwert geschickt umzugehen
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