Süßes Gift und bittere Orangen: Historischer Kriminalroman
verstand. Sein Weg in Italien sei von unzähligen Duellen gepflastert gewesen, sogar in der Heiligen Stadt, in der der untersagte Zweikampf besonders schwer geahndet wurde.
Anna Lucretia hasste ihre Tränen. Ein gewöhnlicher Mann mit einer gewöhnlichen Frau an einem verbotenen Ort zu einer verbotenen Stunde. Mehr war da doch nicht zu sehen. Alles andere? Mädchenträume, Hirngespinste, Fantasterei.
»Solche Rezepte kenne ich nicht, mein Herz. Ich habe sie nie gebraucht. Sie interessieren mich nicht. Die Besessenheit der Alten, die Gier der Jungen finde ich interessant als Studienobjekte. Das ist alles. Du bist nicht die Erste. Das weißt du. Das hast du von Anfang an gewusst. Du bist die Erste, bei der ich bleiben will. Das kann ich dir bis zum Hochzeitstag nicht beweisen. Dazu reicht die Verlobung nicht. Du musst es mir glauben. Das ist sehr schwierig an diesen seltsamen Tagen mit diesen erschütternden Ereignissen. Das weiß ich. Kannst du mir glauben?«
Der verzweifelten Anna Lucretia erschien die Frage wie die winzige Öllampenflamme auf dem Rand des dunklen, eiskalten Brunnenlochs, wie das einzige Licht in undurchdringlicher Finsternis. Egal, was sie war oder zu sein glaubte, egal, ob er sie täuschte oder nicht – die Wahl bestand nur zwischen der sicheren Nacht und dem schwachen, winzigen Lichtlein. Sie schloss die verweinten Augen.
»Küss mich. Wenn es mich noch einmal brennen lässt, glaube ich dir.«
Er hielt kurz inne, um sie anzusehen. Ihre geschlossenen Lider, die Strenge ihres sonst so anmutigen Mundes, die schweren Falten des weißen Kopftuches machten aus ihr die Frau, die sie in zehn, vielleicht sogar in 20 Jahren sein würde.
»Da bist du also, Lucretia. Unerbittlich, zu allem fähig wie deine Namensgeberin. Bleib, wie du bist! Ich küsse dich jetzt.«
Er küsste sie ohne Umarmung, erst auf die Stirn, dann auf die Lider, dann wieder auf den Mund. Er versuchte nicht, das verborgene Fleisch hinter ihren Lippen zu erreichen. Er küsste sie sehr einfach, ohne Vorsicht, ohne Druck, mal auf den ganzen Mund, mal auf die geschlossenen Ecken und schließlich wieder da, wo er ihren Atem spüren konnte. Weil ihr Hals nackt war, küsste er sie auch dort, wo das Blut pocht, danach unter dem Ohr und in der Halsbeuge. Als sein Kopf diese zarteste Stelle berührte, spürte er ihre Finger in seinem Nacken. Auf einmal flossen ihre Körper bewegungslos ineinander. Das Rauschen des weiten Flusses im Tal schien bis zum Brunnenrand emporzusteigen, um sie endlos in die Tiefe mitzureißen.
»Ich glaube dir.«
Ohne ein Wort löste sie ihre Umarmung und verschwand in die Dunkelheit.
9
Am nächsten Morgen, am Tag des heiligen Damasius, dem 11. Dezember, erwachte Sabina neben einer vollkommen beruhigten Nichte, die sich als Erstes für ihren Ungehorsam im Dürnitz entschuldigte. Die Herzogin verzichtete auf den geplanten Tadel und lobte das gelehrige Kind.
Kind? Anna Lucretia verbarg mühsam ihren Unmut. Als Kind fühlte sie sich nach dem Ereignis der vergangenen Nacht überhaupt nicht mehr. War es nicht unübersehbar für jeden, der sehen konnte? War ihre Tante blind erwacht? Doch sogleich nannte sie sich selbst ein eitles, kopfloses Huhn. Sie war verlobt mit dem Mann, den sie ihr Leben lang lieben würde. Bald wären sie verheiratet. Welcher anderen Jungfrau war dieses unermessliche Glück vergönnt? Alles Weitere ging niemanden etwas an – so gern sie ihre Liebesfreude auch rausgeschrien hätte.
Sabina holte sie aus ihren Gedanken.
»Kind, du träumst. Steh auf! Wir müssen in die Küche.«
Anna Lucretia sprang gehorsam aus dem Bett und ließ sich – ganz wie ihre Tante – von noch halb schlafenden, völlig verfrorenen Mägden anziehen. Während die Herzogin diese Unglücklichen rau antrieb, machte das Mädchen fast alles selbst. Sie war hellwach, ihr Körper wohlig ausgeruht. Von der beißenden Kälte in dem Raum spürte sie nichts.
Im Fürstenbau neben dem Damenhaus erfuhr Sabina von Ludwigs Kämmerer, dass sein Herr noch selig ruhte. Sie nickte zufrieden.
»Sehr gut, dann gehen wir gleich zur Besprechung mit den Köchen.«
Sabina eilte so schnell durch den Laufgang, dass Anna Lucretia nicht zum Burghof sehen konnte. Alles erschien ihr so anders als am Tag zuvor: So neu, so ungewohnt, dass sie sich nicht gewundert hätte, wenn das Brunnenhaus in den Himmel emporgestiegen wäre, in seinem goldenen Schatten umgeben von einem im tiefsten Winter üppig blühenden Garten.
Die Stimmung in der
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