Süßes Gift und bittere Orangen: Historischer Kriminalroman
schamlos, weil er für sie und Johann Albrecht etwas in Erfahrung bringen sollte. Was war verwerflicher? Sein Verhalten oder ihres? Warum war sie, Anna Lucretia, nicht ehrlich? Theresa, die Ehebrecherin, erschien ihr auf einmal nicht so schmutzig wie sie selbst oder der Baumeister. Und dieses Schlangennest in ihrem Bauch, in dem die fremden Geister nach wie vor rumorten? Glücksversprechen oder ewige Verdammnis?
Die Herzogin fand ihre Nichte im Delirium, mit hin und her rollendem Kopf, in Schweiß und Tränen gebadet. Sie lief in die Küche zurück, um wilden Kopfsalat zu holen, mit dem sie eilig ihr Gebräu versetzte. Die Mägde richteten Anna Lucretia im Bett auf, damit Sabina ihr aus einem Zinnbecher von dem Getränk einflößen konnte, dann drückte sie ihr das Gefäß in die eiskalten Finger. Als sie weniger zitterte und der heiße Becher ihre Hände etwas erwärmt hatte, stellte die Herzogin Fragen.
»Was ist mit dir geschehen, Kind?«
»Das kann ich Euch nicht sagen, Tante.« Anna Lucretias rote Wangen erglühten noch mehr.
»Warst du in Gefahr?«
»Nein, das glaube ich nicht.« Sie hatte nur kurz mit der Antwort gezögert.
»Trink weiter! Gibt es etwas, was du mir sagen möchtest? Was ich wissen sollte? Siehst du? Ich lasse dir die Entscheidung, wie du es verlangt hast. Doch du musst nicht alles allein tragen, wie du vielleicht glaubst. Trink noch ein wenig!«
Anna Lucretia trank gehorsam. Sie verspürte einen leichten Schwindel, was ihrem Schrecken den bösen Schatten nahm. Es kribbelte unter ihrer Haut und ihrer Zunge.
»Tante?«
»Ja, Kind?«
»Der Baumeister hat mit Langhahns Tod nichts zu tun. Er stirbt fast vor Angst, es könne ihm das Gleiche geschehen, weil er von dem Vergiftungsversuch weiß.«
»Wer sollte ihn umbringen wollen? Hat er das gesagt?«
»Nein. Vielleicht jemand aus der Küche, aber nicht allein.« Anna Lucretia trank gehorsam weiter. »Langhahn hat ihm gedroht, sein Herr würde sich an ihm rächen. Ein mächtiger, sehr machtvoller Herr, nicht der Grünberger.« Sie musste lächeln, weil die weißen Flügel von Sabinas Haube ihre Nase kitzelten. »Den mächtigen Herrn gibt es, Tante, sonst wäre der Langhahn nicht auf diese Art gestorben. Versteht Ihr mich?«
»Ja, mein Kind. Du bist ein braves, tüchtiges Kind. Du hilfst mir sehr. Wenn dein Johann Albrecht wieder in Landshut ist, werden wir bestimmt verstehen, was geschehen ist.«
Anna Lucretia begann, hemmungslos zu weinen. Sie konnte fast nicht atmen, so heftig war ihr Schluchzen.
»Er kommt nicht zurück, Tante. Nie, nie! Es ist alles umsonst, alles.«
»Nein, nichts ist umsonst. Bestimmt nicht, du wirst sehen. Weine jetzt und schlaf! Morgen ist Weihnacht. Hat der Herr seinen Sohn vergeblich zu uns Menschen geschickt? Nein, natürlich nicht. Weine und schlaf, morgen ist Weihnacht!«
Erschöpfung, der Wein und die Tränen bezwangen Anna Lucretias Verzweiflung. Sie schlief wie eine Tote. Doch ihre Hoffnungslosigkeit war längst nicht verschwunden, als sie bei Tagesanbruch versuchte, ihre Glieder zu bewegen. Der Gedanke an das Fest machte es schlimmer. Sabina behandelte sie streng.
»Du hast kein Fieber mehr, Kind. Du bist nicht schwer krank, was ich gestern noch befürchtete.«
»Dafür fühle ich mich, als hätte man mich grün und blau geschlagen«, klagte das Mädchen. Die Herzogin richtete sich auf wie der Drachen, der Siegfried töten wollte.
»Bist du geschlagen worden?«
»Nein, oh Gott, nein, liebste Tante«, wehrte Anna Lucretia sofort ab. »Das hätte ich Euch nicht verheimlicht. Es ist nur alles so … so … ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll.«
»Dann sag gar nichts und komm erst mal zu Kräften. Wir müssen heute auf die Trausnitz.«
Einfacher gesagt als getan, grübelte Anna Lucretia. Trostlos, hoffnungslos, hätte sie Sabina sagen wollen. Sie schämte sich dafür. In der kommenden Nacht würde wieder das Wunder der Wunder geschehen, das in alle Ewigkeit Trost, Hoffnung und Zuversicht spendet. In diesem Moment spürte sie davon nicht das Geringste – ganz im Gegenteil. Hat Gott mich verlassen, mich verstoßen?, fragte sie sich erschrocken. Dieser Gedanke war ihr so noch nie gekommen. Fühlt sich die ewige Verdammnis so an? Der Verlust jeglicher Hoffnung auf Gnade oder Vergebung? Wir irren im Kreis durch die Nacht. Sie wusste nicht mehr, wo sie diesen letzten Satz gelesen oder gehört hatte. In einer Heiligenvita? In einem lateinischen oder italienischen Gedicht? Im traurigen Lied eines
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