Süßes Gift und bittere Orangen: Historischer Kriminalroman
verschwunden wärt.«
»Also bin ich nicht verloren?« Überreiter atmete wieder ruhiger.
»Aber gewiss nicht, Meister Niklas. Denkt so etwas nicht. Allein das ist schon gefährlich.«
Er ergriff ihre Hand und drückte sie so fest in seinen Tatzen, dass sie erneut aufschrie. Er erschrak.
»Verzeiht, Fräulein, oh verzeiht mir! Ich bin ein Ochs, ein Esel, ein Trampel. Das kommt davon, weil ich so lang kein Weib mehr habe. Ich weiß nicht mehr, was ich tue, was ich sage. Ich sehe überall Schatten. Helft mir, liebstes Fräulein, helft mir! Ich brauche wieder einen Engel an meiner Seite. Gebt mir Hoffnung, redet mit mir, meidet mich nicht! Meine Seele brennt. Ihr seht doch, wie nötig ich Euch habe.«
Anna Lucretia wollte nun um jeden Preis gehen; sie ertrug den Gefühlsausbruch dieses Mannes nicht mehr, der ihr nichts bedeutete.
»Ich verstehe Euren inneren Aufruhr, Baumeister. Auch meine Seele ist tief verwundet. Was wir beide brauchen sind Zeit, Geduld, Vertrauen, Besonnenheit, Verschwiegenheit. Wir wissen nicht, wer meinem Vater nach dem Leben trachtet. Bedenkt wohl: Er allein entscheidet über meine Zukunft. Stirbt er jetzt, entscheiden die Herzogin Sabina und Herzog Wilhelm in München über mich. Daran will ich lieber nicht denken. Von Euch, Baumeister, erwarte ich Schutz und Hilfe. Vor der Zeit kann ich Euch nichts geben oder versprechen. Wenn Ihr meint, das sei zu viel verlangt, so könnte ich das verstehen. Aber versetzt mich nicht mehr in Angst und Schrecken! Lasst mich meines Weges gehen!«
Mühevoll fing sich der hünenhafte Mann wieder.
»Das ist hart, aber ich sehe es ein, Fräulein von Leonsperg. Ihr habt recht, ich bin ein Ochs. Natürlich ist es nicht zu viel verlangt. Alles hat seinen Preis. Verzeiht mir bitte! Ich bin halb verrückt vor Sorge seit Langhahns Tod.«
Sie legte kurz die Hand auf seinen breiten, zitternden Arm.
»Ich verzeihe Euch, Baumeister. Wir sehen uns wieder, das wünsche ich mir, aber jetzt gehe ich. Wartet bitte, bis ich hinter der Stadtmauer bin, bevor Ihr selbst die Mühleninsel verlasst.«
Anna Lucretia zwang sich dazu, nicht zu laufen. Mit festem Schritt und unter Aufbietung aller Kräfte überquerte sie den Landsteg. Als sie vor der Mauer stand, wollte sie einen kurzen Blick zurückwerfen, um zu sehen, ob Überreiter ihr folgte. Das tat er nicht. Doch seltsam! Er sah nicht über die große Isar in ihre Richtung, sondern zur Seite der kleinen Isar. Von dort kam zwischen den kahlen Bäumen eine menschliche Gestalt schnell auf ihn zu und redete aufgeregt auf ihn ein. Anna Lucretia, die auf diese Entfernung nichts verstehen konnte, zögerte keinen Augenblick. Sie musste wissen, wer ihm da drohte und wer sie beide gesehen, womöglich sogar gehört hatte.
Schnell und so tief gebeugt, wie es ihr möglich war, lief sie über den Steg zurück und sprang hinter den nächsten Mühlenschuppen. War sie nah genug, um mehr zu erfahren? Ja. Sie erkannte sogleich das grau-rosa Kleid, den Otterfellumhang, die gelblich-matte Haut, die üppigen Kurven: Theresa Kärgl war aufgebracht und spuckte wütende Worte in Überreiters Gesicht. Also doch eine Liebschaft! Anna Lucretia fühlte sich tief enttäuscht. Sie hatte so sehr den bösen Unbekannten herbeigesehnt, von dem sie endlich die Wahrheit über die Machenschaften auf der Trausnitz erfahren hätte. Stattdessen musste sie nun hier versteckt hocken und einer Zusammenkunft beiwohnen, mit der sie nichts zu tun hatte. Oder?
»Was machtest du hier mit dem Fräulein?«, zischte die Kärglerin erzürnt. »Nirgendwo finde ich dich, höre nichts von dir und wenn ich dich endlich erwische, bist du in guter Gesellschaft. Was geht hier vor? Warum verbirgst du dich vor mir? Warum triffst du dich mit der Tochter des Herzogs? Meinst du, du hättest wieder Chancen bei ihr? Was sagt denn das gnädige Fräulein dazu? Du Feigling! So ein dummer Hund bist du!«
Der Baumeister schwitzte Blut und Wasser.
»Theresa, bitte beruhige dich! Es ist nicht das, was du denkst. Es ist viel ernsthafter.«
»Ernsthafter?«
Die große Frau klang plötzlich so schrill, dass Anna Lucretia versucht war, sich zu zeigen. Die Kärglerin würde noch ganz Landshut auf die Mühleninsel locken. Überreiter fürchtete das offenbar auch, denn er packte sie am Kopf und drückte ihr seine Bärentatze auf den Mund, woraufhin Theresa sich wie eine Schlange wand. Als Anna Lucretia ihr schon zu Hilfe eilen wollte, ließ der Baumeister sie auf einmal los.
»Lass mich doch
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