Summer and the City - Carries Leben vor Sex and the City: Band 2 (German Edition)
für heute genug geleistet zu haben, beschließe ich, einen Spaziergang zu machen.
Mein Ziel ist eine schmale, kopfsteingepflasterte Gasse namens Commerce Street, die so versteckt im West Village liegt, dass man sie man nur findet, wenn man sich mithilfe bestimmter Orientierungspunkte an sie heranpirscht. Erst kommt der Trödelladen auf der Hudson Street und danach der Sexshop auf der Barrow. In der Nähe des Zoogeschäfts ist ein kleines, unscheinbares Tor in die Mauer eingelassen und dahinter liegt sie dann plötzlich – meine geheime Lieblingsstraße.
Während ich über das Kopfsteinpflaster schlendere, versuche ich mir jedes noch so kleine Detail einzuprägen. Die kleinen bezaubernden Stadthäuser, die Kirschbäume und die Bar an der Ecke, deren Stammgäste sich in meiner Vorstellung schon seit Jahren kennen. Von Zeit zu Zeit wechsle ich die Straßenseite, bleibe beinahe vor jedem Gebäude kurz stehen und male mir aus, wie es wäre, hier zu wohnen. Ich spähe zu den winzigen Dachfenstern eines roten Backsteinhauses hinauf, als mir plötzlich bewusst wird, dass ich mich verändert habe. Früher hatte ich immer Angst, dass mein Traum, Schriftstellerin zu werden, genau das bleiben würde – ein Traum. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihn verwirklichen, wo ich überhaupt anfangen sollte. Aber in letzter Zeit habe ich immer stärker das Gefühl, tatsächlich Schriftstellerin zu sein. Ich lebe hier, schreibe an meinem Stück und schlendere in meinem OP-Kittel durchs Village.
Und wenn ich den Kurs morgen ausfallen lasse, habe ich noch einen Tag wie diesen, der nur mir ganz allein gehört. Plötzlich erfasst mich unbändige Freude. Ich renne den ganzen
Weg bis zum Apartment zurück, und als ich den Stapel der bereits getippten Seiten sehe, kann ich kaum fassen, wie glücklich ich bin.
Mit einem Rotstift bewafnet beginne ich, die Seiten noch einmal zu lesen, um besonders eindringliche Dialogstellen zu unterstreichen. Ich weiß, was ich kann. Was kümmert es mich, was mein Vater denkt? Was sonst irgendjemand denkt? Alles, was ich brauche, befindet sich in meinem Kopf, und den kann mir keiner nehmen.
Gegen acht krieche ich ins Bett und falle augenblicklich in die Art von Tiefschlaf, den man nur erreicht, wenn der Körper so erschöpft ist, dass man sich fragt, ob man jemals wieder aufwachen wird. Als ich mich schließlich aus den Laken schäle, ist es zehn Uhr vormittags.
Insgesamt habe ich vierzehn Stunden durchgeschlafen. Ich muss wirklich sehr müde gewesen sein. So müde, dass ich noch nicht einmal gemerkt habe, wie kaputt ich war. Anfangs bin ich noch völlig zerschlagen, aber nachdem die Schlaftrunkenheit sich aufgelöst hast, fühle ich mich voller Tatendrang. Ich schlüpfe in meinen Kittel und setze mich, ohne mir die Zähne geputzt zu haben, wieder an die Schreibmaschine.
Meine Konzentrationsfähigkeit ist mir fast schon unheimlich. Ich schreibe ohne Pause, ohne jegliches Zeitgefühl, bis ich schließlich das Wort »ENDE« aufs Blatt tippe. Ein bisschen benommen, aber überglücklich schaue ich auf die Uhr. Es ist erst kurz nach vier. Wenn ich mich beeile, schafe ich es, die Seiten zu fotokopieren und bis fünf in Viktor Greenes Büro zu sein.
Mit vor Triumph wild klopfendem Herzen flitze ich unter die Dusche, werfe mir anschließend einen frischen Kittel über, schnappe mir mein Manuskript und stürze zur Tür hinaus.
Der Copyshop liegt auf der Sixth Avenue, direkt um die Ecke von meiner Schule. Heute scheint ausnahmsweise mal mein Glückstag zu sein — ich bin die einzige Kundin. Es ist nicht gerade billig, die vierzig Seiten kopieren zu lassen, aber das Originalexemplar will ich auf keinen Fall aus der Hand geben. Fünfzehn Minuten später steckt die Kopie meines ersten Theaterstücks in einem braunen Umschlag, mit dem ich zur New School eile.
Viktor sitzt über dem Schreibtisch zusammengesunken in seinem Büro. Im ersten Moment denke ich, dass er eingeschlafen ist, aber als er sich nicht rührt, bekomme ich Angst, er könne einen Herzinfarkt gehabt haben. Ich klopfe an die ofene Tür. Keine Reaktion. »Mr Greene?«, frage ich besorgt.
Er richtet sich langsam auf, als würde ein Zementblock auf ihm lasten, und blickt mit verquollenen und blutunterlaufenen Augen zu mir auf. Dann stützt er den Kopf in die Hände und öfnet den Mund. Sein Schnauzbart ist so zottelig, als hätte jemand verzweifelt an ihm herumgezerrt. »Ja?«
Normalerweise würde ich fragen, was passiert ist, aber dafür kenne ich
Weitere Kostenlose Bücher