Summer and the City - Carries Leben vor Sex and the City: Band 2 (German Edition)
Scheinbar ist da jemandem bei der Anmeldung ein Fehler unterlaufen.«
»Es muss anscheinend heißen , nicht scheinbar«, korrigiert er mich streng. »Mit anscheinend wird die Vermutung zum Ausdruck gebracht, dass etwas so ist, wie es erscheint. Scheinbar hingegen impliziert, dass etwas nur so erscheint, in Wirklichkeit
aber nicht so ist. In diesem Falle wäre niemandem ein Fehler unterlaufen und Sie hießen tatsächlich Cassie. Aber keine Sorge. Den schlampigen Umgang mit unserer schönen Sprache werde ich Ihnen in diesem Seminar schon noch austreiben.«
Ich spüre, wie meine Wangen anfangen zu brennen. Kaum sitze ich fünf Minuten im Kurs, schon habe ich es geschafft, mich zu blamieren.
Ryan fängt meinen Blick auf und zwinkert mir zu. Ob tröstend oder spöttisch kann ich nicht sagen. Als Viktor Greene L’il bemerkt, die neben mir sitzt, leuchten seine Augen auf. »Ah, hallo, L’il. Wir beide haben uns ja bereits kennengelernt.« Seinen Schnurrbart tätschelnd wendet er sich der Klasse zu. »Ms Elizabeth Waters ist eine der vielversprechendsten Teilnehmerinnen des diesjährigen Sommerkurses. Ich bin mir sicher, dass wir alle noch viel von ihr hören beziehungsweise lesen werden. «
Wenn er so etwas über mich gesagt hätte, hätte ich Angst, dass sämtliche Kursteilnehmer mich dafür hassen, aber L’il nimmt sein Kompliment so gleichmütig lächelnd hin, als wäre sie daran gewöhnt, für ihr Talent gelobt zu werden.
Die Glückliche, denke ich neidisch, doch dann sage ich mir, dass alle, die hier sitzen, Talent haben. Sonst wären sie nicht aus Hunderten von Bewerbern ausgewählt worden. Und das gilt auch für mich. Viktor Greene weiß eben einfach nicht, wie talentiert ich bin – noch nicht.
»So. Dann lassen Sie uns jetzt zum eigentlichen Ablauf kommen. « Viktor Greene blättert stirnrunzelnd in seinen Unterlagen, als würde er etwas suchen, wüsste aber nicht, wonach. »Das Thema unseres Sommerkurses lautet: Familie. Sie werden in den vor uns liegenden acht Wochen wahlweise vier Kurzgeschichten,
eine Erzählung oder sechs Gedichte zu diesem Thema verfassen. Ich wähle dann jede Woche drei oder vier Arbeiten aus, die hier im Kurs vorgelesen und anschließend diskutiert werden. Gibt es dazu Fragen?«
Ein schlanker Typ mit Brille und schulterlangen blonden Haaren hebt die Hand. Obwohl er mich mit seiner großen, schnabelartigen Nase ein bisschen an einen Pelikan erinnert, lächelt er so siegessicher, als würde er sich für unwiderstehlich halten. »Wie lang sollen die Kurzgeschichten denn sein?«
Viktor Greene zupft hingebungsvoll an seinem Schnurrbart. »So lang wie nötig, um eine Geschichte zu erzählen.«
»Dann würden zwei Seiten also auch schon reichen?«, fragt ein aufallend apartes Mädchen mit hohen Wangenknochen, kurz geschnittenen dunklen Haaren und smaragdgrünen Augen, um deren Hals ungefähr ein Dutzend bunter Perlenketten geschlungen sind.
Viktor Greene zuckt mit den Achseln. »Wenn Sie glauben, dass Sie in der Lage sind, auf zwei Seiten eine komplette Geschichte zu erzählen – nur zu.«
Das Mädchen nickt triumphierend. »Ich frage nur, weil mein Vater Künstler ist, und der sagt immer …«
»Jeder hier weiß, wer Ihr Vater ist, Rainbow«, unterbricht er sie seufzend.
Nicht jeder. Ich zum Beispiel weiß es nicht. Und was ist das überhaupt für ein Name – Rainbow?
Ich lehne mich zurück, verschränke die Arme und beobachte interessiert, wie der Blonde mit seinem Stuhl etwas näher an die Künstlertochter heranrückt und ihr zuzwinkert. Kennen die beiden sich schon oder versucht er mit ihr zu flirten?
»Ich hätte da auch noch eine Frage«, meldet sich Ryan. »Können
Sie uns garantieren, dass wir nach diesem Kurs alle richtige Schriftsteller werden?«
Viktor Greene sackt noch ein bisschen mehr in sich zusammen. »Ich dachte mir schon, dass diese Frage kommen wird und die Antwort darauf lautet: Nein. Um genau zu sein, wird es gerade mal ein Prozent von Ihnen schafen, sich als Schriftsteller einen Namen zu machen.«
Der Kurs stöhnt kollektiv auf.
»Wenn das so ist, möchte ich mein Geld zurück, sollte ich nicht zu dem einen Prozent gehören«, lacht Ryan.
Alle kichern – außer Viktor Greene. »Da müssen Sie sich an das Sekretariat wenden, nicht an mich«, antwortet er völlig humorlos und zwirbelt seinen Schnurrbart.
Schon jetzt treibt er mich damit in den Wahnsinn. Ich frage mich, ob Viktor Greene verheiratet ist, und falls ja, wie seine Frau es findet, mit einem
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