SUMMER DAWN (Sommerdämmerung) (German Edition)
und Talisman geworden. Nabadoon spürte die Waffe in seiner Hosentasche, die er seit diesem Tag stets bei sich trug. Die Klinge scharf wie ein Rasiermesser, geölt und gehegt. Er legte sie nie beseite, auch nicht im Schlaf. Seine Hand glitt von der Panzerfaust in seine linke Hosentasche und berührte den Griff.
Nadschah ebek! Wir werden in Reichtum und Triumph zurückkehren. Inschallah! So Gott will!
2
«Nabadoon! Schnell!» Der eindringliche Ruf hinter ihm riss ihn aus seinen Gedanken. Er wischte sich mit der rechten Hand über das Gesicht, drehte sich von der Reling weg und schaute nach hinten.
Abshir stand mit entgeistertem Gesicht neben dem Eingang zum Brückenturm und keuchte.
Das gewaltige Schiff wogte ganz leicht in der Abendströmung. Abshir und Nabadoon waren vor zwei Stunden per Funkspruch über den Erfolg des Angriffs informiert worden. Anschließend waren sie in der Abenddämmerung vom 20 Seemeilen entfernten Mutterschiff gemeinsam mit Arif und Kalil hierhergekommen, um sich ihre Beute zu begutachten.
«Was ist los, mein Freund?» fragte Nabadoon seinen völlig entrückt wirkenden Gefährten. Eben noch waren sie voller Stolz aus ihrem Schnellboot via Hängeleitern auf das gekaperte Frachtschiff geklettert und hatten sich über die Lage ein Bild verschafft. Zwölf ihrer Mitstreiter unter der Führung ihres Bundesbruders Djamal hatten am späten Nachmittag die Sun Diamond mit zwei Schnellbooten aufgetrieben, geentert und das Schiff samt Besatzung nach einem kurzen Gefecht an Bord in ihre Gewalt gebracht. Nabadoon und seine Männer betrachteten sich nicht als Piraten. Sie nannten sich «Baddadinta badah», «Retter des Meeres». Sie holten sich zurück, was ihnen ihrer Ansicht nach genommen worden war. Steuern für die leergefischte, ausgebeutete See. Ihre See. Sie betrachteten sich als eine Art Küstenwache.
Die Crew befand sich im Mannschaftsdeck, gefesselt und unter strenger Bewachung von vier Soldaten, wie Nabadoon seine Leute zu nennen pflegte. Die Seeleute waren nicht dazu gekommen, in den Panic Room, den versiegelbaren Sicherheitsraum der Sun Diamond, zu flüchten. Der Angriff war gut vorbereitet gewesen, nicht so die Besatzung des Frachters. Sie hatten sich in der großen Entfernung zur Küste fälschlicherweise in Sicherheit gewogen.
Soweit lief also alles bestens. Nabadoon musterte Abshir, der komplett aus dem Häuschen schien, eindringlich. «Beruhig dich, mein Freund! Hol erst mal Luft, dann raus mit der Sprache! So schlimm kann’s ja nicht sein!» Nabadoon neigte seinen Kopf leicht zur Seite und lächelte.
«Schnell, komm mit! Unglaublich! Das musst du dir anschauen!» Abshir winkte Nabadoon energisch, ihm zu folgen. Er drehte sich postwendend um und marschierte eiligen Schrittes die Stufen wieder hinunter in Richtung Unterdeck, woher er gekommen war.
Nabadoon, der seine Hände in die Hüfte gestützt hatte, schüttelte den Kopf und folgte seinem Kampfgefährten. Er konnte sich keinen vernünftigen Grund für den Aufruhr vorstellen. Wie ihm seine Männer berichtet hatten, war der kurze Schusswechsel ohne Folgen geblieben, der Überfall reibungslos verlaufen.
Auf der rechten Seite der Treppe, die zwischen Brückenturm und Fracht verlief, ruhten auf Stapeln unter offenem Himmel die massiven Container – die Ladung des 180-Meter-Frachters. Nabadoon klopfte beim Vorbeigehen mit dem Handballen der Faust auf die Wand eines roten Stahlkastens. Er blieb stehen und schaute dem Stapel entlang nach oben. Nabadoon schätzte die Gesamtzahl der Behälter auf 800 Stück, jeder gefüllt mit tonnenweise Fracht. Das Schiff war die bisher dickste Beute unter Nabadoons Kommando. Er und seine Männer hatten bei drei vorangegangenen Versuchen einiges an Lehrgeld bezahlen müssen. Einzig ein, zwei kleinere Schiffe hatten sie erfolgreich gekapert.
«Auf was wartest du?! Es ist wirklich dringend! Komm schon, hier entlang!» Abshir wartete etwas weiter unten auf ihn und deutete auf die Treppe auf der anderen Seite der Plattform. Sie führte wieder nach oben an Deck.
Nabadoon ging darauf zu, schaute Abshir beim Vorbeigehen mit hochgezogenen Augenbrauen an und sprang die Stufen hinauf. Zwei Tritte auf einmal.
Er erreichte die andere Seite des Decks auf der Backbordflanke. Er stand nun wieder auf Höhe der Reling und vernahm aufgebrachtes Geplapper, dumpfe Hiphop-Beats und Schreie aus der Richtung des Buges. Er ging zum übernächsten Querstapel von Containern in die Richtung,
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