Summer Sisters
Frage, und als er merkte, dass sie weder schockiert noch abweisend war, nahm er ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie inniger. Ihr Kopf wurde gegen die Rücklehne gedrückt. Mutig legte sie ihre Hand um seinen warmen Nacken. Seine Haare kitzelten ihren Handrücken und sie fühlte seinen Pulsschlag in ihren Fingerspitzen. Oder vielleicht war es auch ihr eigener Pulsschlag. Sein Atem war wie feiner Dampf. Oder war das ihr Atem? Sie spürte den weichen Stoff seines Kapuzenpullis.
Er küsste ihr Kinn und die Unterseite ihres Kinns und ihren Hals. Sie dachte, sie würde gleich sterben oder explodieren. Oder explodieren und dann sterben. Ich glaube einfach nicht, was in diesem Film passiert, dachte sie wie aus weiter Ferne.
Sie bestand nur noch aus Nervenenden und ihr einziges Wahrnehmungsorgan war ihre Haut. Seine Lippen waren warm und zuversichtlich und machten auch ihre Lippen warm und zuversichtlich. Sie hatte sich immer Sorgen gemacht, sie wäre eine miese Küsserin, falls es jemals dazu käme, aber ihr Mund schien zu wissen, was er tun sollte. Sein Mund hatte genug Vertrauen für sie beide.
Irgendwie bekam sie mit, dass der Bus von der Schnellstraße abbog und die Ausfahrt nach Rehoboth nahm. Als er hielt, lösten sie sich voneinander. Er warf ihr einen Blick zu, den sie nicht deuten konnte, und gab ihr einen letzten harten Kuss.
»Rehoboth Beach«, bellte der Fahrer.
Die Vordertür öffnete sich.
Er half ihr mit ihrer Tasche und sah zu, wie sie den Mittelgang entlangstolperte. Jo hoffte, dass er nicht auch hier ausstieg, sondern nach Dewey Beach oder Bethany oder Ocean City weiterfuhr. Es wäre zu peinlich, mit ihm zusammen auszusteigen und so zu tun, als würden sie sich nicht kennen oder - die zweite Möglichkeit - ihn ihrer Mutter vorzustellen. Sie sah stur geradeaus, zitterte am ganzen Körper und ihr Herz klopfte wie verrückt. Ihr war, als wäre sie betrunken oder unter Wasser, und sie schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. Sie sah ihre Mutter im Auto warten und versuchte, durch Kilometer von schwerem Wasser aufzusteigen und an die Luft zu kommen.
Was hast du getan? Sie atmete die feuchte, kühle Meerluft ein. Wie hat das einfach so passieren können?
Jo wäre gern zu Fuß nach Hause gegangen, um diesen köstlichen Rausch weiterzuspüren, statt ins Auto ihrer Mutter einzusteigen und dieses Gefühl zu verlieren. Würde ihre Mutter sofort wissen, dass etwas Unglaubliches geschehen war, wenn sie ihr erhitztes Gesicht und ihre zitternden Hände sah? Jo war, als hätte sich ihr gesamtes Denken und Empfinden nach außen gestülpt.
Was hast du dir dabei nur gedacht? , fragte sie sich.
Aber anscheinend hatte sie kein Bedürfnis, sich eine Antwort auf diese Frage zu geben.
Liebe Grace, ich würde dir gern irgendwas Gutes über diese Tour hier schreiben. Wirklich, ich geb mir Mühe! Aber es ist viel einfacher, von all den schlimmen Sachen zu erzählen. Zum Beispiel von den Blasen an meinen Füßen, von meinen grässlichen Haaren (mein Haarbalsam und mein Glätteisen samt Batterien
wurden gleich am ersten Tag konfisziert) und von meiner Zeltgenossin, die eine miese Schlampe ist, von der fürchterlichen Singerei am Lagerfeuer, vom Essen, von der Rostlaube von Bus, von den vielen schrecklichen kilometerlangen Wanderungen und von meinem an Flatulenz leidenden Kochpartner (Flatulenz bedeutet, dass man dauernd furzt - falls du mal danach gefragt wirst). Außerdem kann mich hier keiner ausstehen und ich kann auch keinen von denen hier ausstehen.
Nein, warte mal, mir fällt doch was Gutes ein. Das »Wanderfutter«. Es ist eigentlich ganz normales Studentenfutter (aber Wanderer müssen allem und jedem einen speziellen Namen geben) mit Nüssen und Rosinen, aber es sind auch M&Ms drin. Na gut, M&Ms mochte ich schon immer. Also hab ich nicht allzu viel Neues über mich gelernt.
Ich will ja gar nicht jammern, aber ich kann nicht anders. Die Tage vergehen so langsam und ich hab noch so viele vor mir. Wie läuft es denn so in Andover? Ich wär so gern dort.
xoxoxo
Ama
P.S. Meine Zeltgenossin Carly hat in vier Tagen mit drei verschiedenen Jungs rumgemacht. Ich übertreibe nicht.
Chère Maman, hier läuft alles gut. Ich lerne viel und jeder Tag bringt etwas Neues. Bitte sag Papa und Bob, dass ich sie liebhabe. Grüß Esi von mir, wenn du mit ihr telefonierst.
Liebe Grüße
Ama
8
»Hallo? Dia?«
Polly versuchte, ihre Mutter in der kurzen Zeit
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