Summer Sisters
zwischen Aufwachen und Zum-Atelier-Gehen zu erwischen und zu einem Gespräch zu verlocken.
Dia sah von ihrem großen Kaffeebecher auf. Ihr Blick war noch verhangen und ihre Augen waren noch ziemlich verschwiemelt.
»Nervst du? Nerv nicht.«
Das war die eherne Morgenregel.
Polly stand früh auf und Dia schlief lange. Wenn Dia endlich wach war, platzte Polly fast vor unterdrücktem Redebedürfnis, und es fiel ihr schwer, sich zurückzuhalten, während Dia ihre morgendlichen Rituale verrichtete.
»Nein. Ich wollte nur... ich wollte dich nur was fragen.« Polly rieb unter dem Tisch ihre Füße in den Socken aneinander.
»Na gut. Leg los.«
»Kann ich Ende Juli bei dem Model-Ferienkurs in Gaithersburg mitmachen?«
»Was?«
»Bei einem Model-Ferienkurs. Bis nach Gaithersburg fährt man nur eine halbe Stunde, ich hab auf der Karte nachgesehen. Und ich kann fast die ganze Gebühr von meinem Babysitter-Geld bezahlen. Der Kurs geht immer von neun bis vier,
von Montag bis Freitag. Und er dauert nur zwei Wochen. Da haben schon mehrere richtige Supermodels mitgemacht.«
»Model-Ferienkurs?«
»Ja.« Polly brach ihre Toastscheibe in zwei Hälften.
»Was soll das sein, ein Model-Ferienkurs?«
»Da lernt man... du weißt schon, da lernt man, wie man ein Model wird.«
»Oder nur wie eins auszusehen«, knurrte Dia.
»Was?«
»Nichts. Wie bist du bloß auf diese Schnapsidee gekommen? Gehen deine Freundinnen auch zu diesem Model-Ferienkurs?«
»Nein.« Polly hatte ihrer Mutter mehrmals erzählt, was Jo und Ama in den Ferien machten, aber das hatte sie wohl wieder vergessen. »Ich hab den Kurs im Internet gefunden.«
»Warum?«
»Warum ich den gefunden habe?«
»Warum hast du danach gesucht? Willst du ernsthaft Model werden?«
Polly zerkrümelte eine der Toasthälften. Sie hatte geahnt, dass sie von ihrer Mutter keine Unterstützung erwarten konnte. Dia behauptete immer, dass sie Feministin wäre - und wollte, dass auch Polly eine wurde. Sie mochte keine Modezeitschriften und keine Castingshows, weil darin Frauen ihrer Ansicht nach entwürdigt wurden. Polly aber fand das alles toll und machte sich insgeheim Sorgen, dass sie niemals eine richtige Feministin werden würde.
»Ich stelle mir das spannend vor«, sagte sie leise.
Dias Miene wurde etwas weicher. Sie trank einen großen Schluck Kaffee.
»Meinst du denn, dass du das richtige Aussehen dafür hast? Sind Models nicht alle sehr groß?«
»Ich wachse ja noch. Vielleicht werde ich groß.«
»Polly, ich bin einen Meter neunundfünfzig. Du bist größer als ich, aber du wirst nie sehr groß sein.«
Polly hätte gern nach ihrem Vater gefragt. War er groß? Aber sie hatte Angst, dass Dia ihr dann erst recht nicht erlauben würde, an dem Kurs teilzunehmen.
»Manche Models sind nicht groß. Wie zum Beispiel… Hand-Models.«
»Willst du ein Hand-Model werden?«
»Nein. Hm. Ich weiß nicht.«
Polly war eine unverbesserliche Nägelkauerin. Sie ballte die Hände zu Fäusten.
Dia seufzte. Sie wirkte müde.
»Du weißt nicht, was du in den Ferien machen sollst, hm?«
»Nein, das ist es nicht. Ich hab nur gedacht, das könnte vielleicht... interessant sein.«
»Polly, Modeln ist nicht interessant. Du bist interessant. Meiner Meinung nach bist du viel zu interessant, um zu modeln. Willst du wirklich bloß nach deinem Aussehen beurteilt werden?«
»Ich glaube, da geht es um viel mehr als nur ums Aussehen«, sagte Polly. »Eigentlich ist es eher wie... wie schauspielern.« Sie zerkrümelte weiter ihren Toast. »Und man lernt was über Mode. Das finde ich total interessant. Und auf der Website stand, dass man auch was über Fotografie lernt und wie man sich fit hält.«
»Polly, du hast dich total vollgekrümelt.«
Polly legte den Toast weg und wischte über ihrem Teller vorsichtig die Krümel von den Händen.
»Darf ich bitte hin? Ich kann mit der Bahn allein hin- und zurückfahren. Du brauchst dich um nichts zu kümmern.«
Dia seufzte wieder, diesmal lauter.
»Ich weiß nicht.« Aber ihr Gesicht zeigte bereits den resignierten Ausdruck, auf den Polly abgezielt hatte. Früher hatte es länger gedauert, bis Dia diesen Grad an Resignation erreicht hatte, aber Polly hatte ihre Technik verbessert.
»Ich werde drüber nachdenken«, sagte Dia.
»Gut.« Polly war klug genug, keinerlei Triumph zu zeigen.
Ich werde darüber nachdenken bedeutete ja .
Vielleicht bedeutete wahrscheinlich . Nein hieß, dass sich Polly noch mehr anstrengen musste, um Dia zu
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