Summer Sisters
Sechs wird?
Sie kniff die Augen zu, als sie ungläubig registrierte, dass die beiden kichernd in Carlys Schlafsack krochen. Warum hatte sie sich nicht gleich aufgerichtet und etwas gesagt? Jetzt war es dafür zu spät. Regungslos lag sie da und wagte kaum zu atmen.
»Hast du mitgekriegt, wie sie vorhin wegen den Noten fast durchgedreht ist?«, fragte der Junge, der wahrscheinlich Jonathan war. »Mann, die Alte ist so was von verklemmt. Wie hältst du das mit der bloß in einem Zelt aus?« Er sagte noch mehr, aber leiser und undeutlich, deshalb verstand Ama es nicht. Vor Wut und Demütigung zitterte sie am ganzen Leib.
Sie wünschte sich verzweifelt den Schlaf herbei. Oder dass sie sich an irgendeinem anderen Ort im Universum befand. Sie hasste dieses Zeltlager.
Sie hörte den Reißverschluss von Carlys Schlafsack und Carlys Kichern. Dann noch mehr Gekicher und Geflüster.
»So schlimm ist sie gar nicht«, sagte Carly. Aber das hörte Ama nicht.
9
Nach der Arbeit trödelte Jo absichtlich, um den Heimweg möglichst in die Länge zu ziehen. Als sie schließlich ins Strandhaus trat, kam es ihr vor, als würde sie ein fremdes Haus betreten. Sie hörte, wie ihre Mutter im Wohnzimmer staubsaugte, und wusste, dass ihr Vater heute nicht kommen würde - heute nicht und auch an keinem anderen Abend. Sie versuchte, diese Gedanken zu verbannen, aber es gelang ihr nicht.
Die Tatsache, dass ihr Vater in diesen Ferien nicht wie sonst ein- oder zweimal die Woche kommen würde, sondern kein einziges Mal, veränderte das Haus. Auf einmal war es das Haus ihrer Mutter und Jo wurde zu einem darin aufbewahrten Gegenstand.
Es war so wenig gewesen - nur diese zehn oder zwölf Abende im Laufe des Sommers -, was aus dem Strandhaus ein Zuhause gemacht hatte, dass es beim leisesten Windhauch in sich zusammenfiel.
Aber was war daran schon so schlimm? Machte es wirklich einen so großen Unterschied? Eigentlich hatte sich doch bloß die Idee von etwas verändert. Ein Konzept. Und das, was angeblich verloren gegangen war, hatte in Wirklichkeit sowieso nicht mehr existiert.
»Es tut mir so leid, dass du da mittendrin steckst«, hatte ihre Tante Robin gesagt, als sie Jo heute während der Pause angerufen hatte.
»Das braucht dir nicht leidzutun«, hatte Jo erwidert. »Mir geht’s gut.«
Sie steckte nirgendwo »mittendrin«. Es gab keine Mitte. Ihr Vater war an einem Ort, ihre Mutter an einem anderen. Das war nichts Neues.
Jo ging in ihr Zimmer, sammelte ihre schmutzige Wäsche ein und leerte den Papierkorb. Zuletzt faltete sie ihr Surfside -T-Shirt zusammen und legte es für morgen auf die Kommode. Sie fühlte sich einsam und betrachtete nachdenklich den Handabdruck, den sie auf der Fensterscheibe hinterlassen hatte. Sie würde hier wieder eine Touristin sein.
Liebe Esi, der Kurs wird BENOTET! Ich bin kurz vorm Durchdrehen! Meine allererste Note an der Highschool...! Ich hab eine Betreuerin gefragt, ob man nicht einfach eine Teilnahmebestätigung haben kann, aber sie hat mich abblitzen lassen. Warum bin ich nicht nach Andover gekommen, wo ich hingehöre? Warum bin ich hier? Was hab ich verbrochen, dass ich so bestraft werde Außerdem hat meine Zeltgenossin Carly in unserem Zelt mit einem Typen rumgemacht - während ich danebenlag! Sie hat gedacht, ich würde schlafen, aber ich war wach! Kannst du dir das vorstellen? Was für eine Schlampe! Ich musste alles mitanhören, es war echt widerlich! Wenigstens haben sie ihre Klamotten anbehalten... Daniel - einer der Betreuer - muss irgendwas mitgekriegt haben, weil er plötzlich rumgebrüllt hat, dass alle in ihre eigenen Zelte zurückgehen und leise sein sollen. Wie kommt es bloß, dass dir nie so was passiert?
Liebe Grüße
Ama
Nachdem Ama den Brief geschrieben hatte, knüllte sie ihn zusammen und warf ihn ins Lagerfeuer. Sie wollte nicht wie ein Jammerlappen klingen. Außerdem war es sowieso sinnlos; der nächste Briefkasten war mindestens fünf Tagesmärsche weit entfernt.
Als sie zur nächsten endlosen Wanderung aufbrachen, suchte Ama misstrauisch den Untergrund ab. Sie durfte ihn keine Sekunde aus dem Blick lassen, weil es dort immer wieder etwas gab, das sie stolpern ließ. Eigentlich sollten sie auf dem Weg die Bäume benennen und einordnen, aber Ama traute sich nicht, den Blick zu heben. Sie würde lernen müssen, die Bäume an ihren Wurzeln zu erkennen.
Auf dem Boden wimmelte es von Insekten. Und von Nacktschnecken. Es gab viel mehr Nacktschnecken
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