Summer Sisters
kenne meinen Vater aber nicht und deshalb kenne ich sie auch nicht. Ich weiß nur, dass sie Model war.«
»Hm.«
Bevor sie am Nachmittag ging, legte sie einen Hefter auf sein Pult.
»Was ist das?«, fragte er.
»Das ist eine Recherche, die ich gemacht habe.«
»Für die Schule?«
»Nein. Nur so... aus Spaß.«
»Das Leben der Supermodels«, las er und blätterte durch die vielen Seiten. »Das hast du alles zusammengestellt? Die ganzen Tabellen und Fotos und Zitate? Und die ganzen Texte?«
Polly nickte etwas verunsichert. Sie wusste, dass sie andere mit ihrer Begeisterungsfähigkeit und ihrer Hartnäckigkeit manchmal überforderte.
Er nahm den Hefter mit und brachte ihn am nächsten Tag wieder. Polly saß bereits im Klassenraum, als er kam. Sie war gern ein bisschen früher da, weil sie dann noch Zeit zum Reden hatten.
»Polly, das ist unglaublich.«
Sie kniff die Augen zusammen, weil sie nicht wusste, ob er sich nicht vielleicht bloß über sie lustig machte. »Finden Sie wirklich?«
»Auf jeden Fall. Das ist ja fast schon eine Doktorarbeit. Deine Lehrer in der Schule sind bestimmt sehr zufrieden mit dir.«
»Na ja, manchmal.« Außer ihrem Mathe- und ihrem Spanischlehrer und dem Leiter des Schulorchesters.
»Ernsthaft. Du hast diese Supermodel-Karrieren so spannend dargestellt, dass sie sich fast wie Heiligenlegenden lesen. Na ja, nicht sehr tugendhafte Heilige, dafür aber mit schickeren Frisuren.«
Polly musste lachen.
Nach der Stunde - der letzten am fünften Kurstag vor dem
Wochenende - erlaubte er ihr wieder, im Zimmer sitzen zu bleiben, während er irgendwelchen Papierkram erledigte. Sie hatte keine Lust, mit den anderen in der Snackbar über Klamotten zu reden, Schminktipps auszutauschen oder irgendeine Supermodelshow im Fernsehen anzugucken. Lieber saß sie hier in der Stille des Raums und sah zu, wie das fahler werdende Licht über den Fußboden glitt.
Ihre Gedanken wanderten zu Ama und das stimmte sie traurig. Sie hatte sich so gefreut, als Ama sie von ihrer Tour aus angerufen hatte, aber anscheinend hatte sie nicht das gesagt, was Ama sich von ihr erhofft hatte. Am liebsten hätte sie die Zeit zurückgespult, um noch einmal mit ihr zu telefonieren und diesmal alles richtig zu machen. Irgendwie hatte sie völlig verlernt, eine Freundin zu sein.
Mr Seaver war auch weniger gesprächig als sonst und wirkte fast unglücklich, als er im Rausgehen den Hefter auf ihren Tisch legte. Er schüttelte nachdenklich den Kopf und seufzte.
»Polly, was tun wir eigentlich hier?«
»Hier?«
»An diesem Ort. In diesem Kurs.«
Polly ließ die Blätter wie ein Daumenkino durch ihre Finger gleiten und betrachtete das Titelbild, das sie gezeichnet hatte. Sie dachte an Jo und Bryn.
»Wie meinen Sie das?«, fragte sie unsicher, obwohl sie eigentlich eine ziemlich genaue Vorstellung davon hatte, was er meinte. »Sind wir hier nicht richtig?«
Sie wollte, dass er ihr diese Frage beantwortete. Denn sie wusste es wirklich nicht.
15
Während Ama auf den Anruf ihrer Eltern wartete, starrte sie auf das Poster, das vor ihr an der rauen Holzwand hing. Es zeigte eine wunderschöne Berglandschaft: majestätische dunkle Fichten und bunte Wildblumen vor einem geheimnisvoll blauen Gebirgspanorama. Eine Landschaft, wie ihr Vater sie ihr vor der Tour ausgemalt hatte, aber Ama hatte sie bisher nicht gesehen.
Als das Telefon endlich klingelte, schnappte sie sofort nach dem Hörer.
»Hallo?«
»Ama? Bist du das?«
Es war ihre Mutter. Ama hatte gedacht, sie hätte ihre Gefühle inzwischen unter Kontrolle, aber als sie die Stimme ihrer Mutter hörte, merkte sie, dass das nicht stimmte.
»Ama, ist alles in Ordnung? Wo bist du denn?«
Ama wollte den Mund nicht aufmachen, weil sie wusste, dass sie dann von der Wortflut fortgerissen werden würde.
»Ama? Où es-tu? «, fragte ihre Mutter auf Französisch, wie sie es manchmal tat, wenn sie aufgeregt war.
»Ich bin hier«, quetschte Ama heraus. »Auf der Tour.«
»Tu vas bien? Qu’est-ce qui s’est passé? Dis-moi!«
»Ich... ich bin von meiner Gruppe getrennt worden. Aber jetzt geht es mir wieder gut.«
»Mais tu vas bien?«
»Ja, ehrlich, alles okay.« Ama liefen Tränen über die Wangen.
»Hast du deine Gruppe wiedergefunden?« Jetzt war ihre Mutter so weit beruhigt, dass sie wieder Englisch sprach.
»Nein, noch nicht.« Ama hätte gern ein Taschentuch gehabt, um sich die Nase zu putzen.
»Was heißt das, noch nicht? Wo sind denn die anderen?
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