Summer Sisters
das
Bedürfnis, sich zu schützen - ein Gefühl, das sie bei Polly oder Ama nie gehabt hatte.
»Ach, so schlimm ist das alles gar nicht«, hörte sie sich sagen. »Wahrscheinlich ist er noch nicht reif für eine richtige Beziehung.«
»Nicht so schlimm ?«, wiederholte Bryn ungläubig. »Zach hat mit einer anderen rumgeknutscht und total vergessen, dass es dich überhaupt gibt, und du findest das nicht so schlimm?«
Jo hätte am liebsten aufgelegt. Sie fragte sich, warum sie Bryn überhaupt angerufen hatte. Was sollte das hier werden? Sie kämpfte um ein letztes Restchen Würde.
»Ich seh das so: Es hat ihn einfach total überrascht und überrumpelt, dass seine Freundin vom letzten Sommer plötzlich wieder aufgetaucht ist. Und wir waren schließlich nicht verheiratet oder so. Ist ja nicht so, als wäre er plötzlich zum Serienkiller mutiert.«
Sie hoffte, dass Bryn nicht hörte, dass sie kurz davor war, loszuheulen.
»Na ja, aber zum Serienknutscher«, erwiderte Bryn.
Jo hätte gern gelacht, aber das schaffte sie nicht.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass er zu den Typen gehört, denen ein einziges Mädchen einfach nicht reicht. Und ich bin ja selbst nicht die Allertreueste. Ich weiß auch nicht, was ich tun würde, wenn plötzlich einer meiner Exfreunde auftauchen würde.«
Das war zwar reine Erfindung, aber jetzt ging es ihr schon etwas besser.
»Na, dann beantworte mir mal eine Frage«, schoss Bryn zurück. »Denkst du, es geht ihm jetzt so schlecht wie dir?«
Jo spürte, wie ihr eine Träne die Wange herunterkullerte und auf ihre Hand fiel. Sie kannte die Antwort auf die Frage, aber sie sprach sie nicht aus.
Als Ama in der Ranger-Station aufwachte, zog sie sich als Erstes an und packte ihre Sachen zusammen. Anschließend putzte sie sich die Zähne und erhaschte dabei einen Blick auf ihr Spiegelbild. Sie verzog das Gesicht. Ihre Haare sahen schrecklich aus.
Nach einem kurzen Frühstück mit Bob verabschiedete sie sich von ihm und setzte sich auf die Bank an der Straße, so wie er es ihr gesagt hatte. Es war halb neun, die Straße war staubig, und die Sonne brannte schon ziemlich heiß. Ama wurde regelrecht gegrillt. Sie kämmte sich mit den Fingern durch ihre wirren Haare und versuchte, sie von all dem zu befreien, was sich im Laufe ihrer gestrigen Wanderung darin verfangen hatte. Aber es war hoffnungslos.
Das Warten war nervenaufreibend. Zwei Stunden lang passierte rein gar nichts, nicht einmal ein Käfer kroch vorbei. Dabei hätte sich Ama jetzt sogar über den Anblick einer Ameise gefreut.
Irgendwann tauchte am Horizont wie eine zweite Sonne der gelbe Bus auf - aber es war eine trostlose, glanzlose Sonne.
Ama versuchte sich vorzustellen, wie sie für die Leute im Bus aussehen musste: das verirrte, verwirrte Mädchen mit dem Riesenafro, das in der sengenden Hitze allein dasaß. Sie hätte sich nicht blöder vorkommen können.
Der Bus hielt in einer Staubwolke, und die Tür öffnete sich. Maureen saß am Steuer und drückte Ama die Hand, als sie einstieg, aber sonst rührte sich niemand und keiner sagte ein Wort. In der Stille polterten Amas Wanderstiefel überlaut auf dem Boden, als sie ihren Rucksack durch den engen Mittelgang zerrte. Ihr Gesicht glühte vor Anstrengung und Scham.
Der einzige freie Platz war der neben Carly.
Ama verstaute den Rucksack ungeschickt über dem Sitz und setzte sich. Als der Bus anfuhr, hielt sie den Blick starr geradeaus gerichtet.
Plötzlich berührte etwas ihre Hand. Sie sah nach unten. Carly hatte ihr etwas in den Schoß gelegt. Es waren zwei braune Haargummis und eine Flasche Seidenprotein-Balsam von Kiehl’s - in Reisegröße.
Ein alter Glaube besagt, ein Weidenzweig im Haus beschützt die Bewohner vor dem Bösen und vor schwarzer Magie.
16
»Mein Gott, bist du dünn geworden. Wann ist das denn passiert?«, sagte Dia, als sie Polly nach Abschluss des Ferienkurses an der Metrostation Friendship Heights abholte. Dia hatte an den letzten drei Abenden bis spät abends im Atelier gearbeitet, weshalb Polly sie kaum zu Gesicht bekommen hatte.
»Seit letzter Woche hab ich nur ein halbes Kilo abgenommen. Die Wochen davor ungefähr vier oder fünf.«
»Das ist mir gar nicht aufgefallen!«
»Du hast mich eben nie richtig angeschaut.« Man konnte problemlos wochenlang neben jemandem herleben und ihn nie richtig anschauen - besonders wenn man Pollys Mutter war. Polly war einmal vier Tage lang mit einer Bindehautentzündung herumgelaufen, bevor
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