Summer Sisters
seltsame Fragen für ein Mädchen, das sich immer gerühmt hatte, ganz genau zu wissen, wo sie wann war.
Sie dachte an Esi mit ihrer Riesenarmbanduhr, die die Uhrzeiten sämtlicher Zeitzonen anzeigte.
Ama konnte sich in diesem Moment nicht einmal mehr an die Handynummer ihres Vaters erinnern, geschweige denn an die Nummer des Taxiunternehmens, bei dem er angestellt war. Solche Nummern waren eher in ihrem Handy als in ihrem Kopf gespeichert. Ihre Mutter besaß kein Handy und war fast immer zu Hause.
Bloß jetzt nicht!
Esis Nummer kannte sie auswendig. Sie würde Esi anrufen. Aber was sollte sie ihr sagen? Ich hab mich verirrt? Ich bin eine Idiotin? Die haben mich einfach vergessen? Keiner hat gemerkt, dass ich nicht dabei war? Ich bin die größte Niete, die jemals an diesem Programm teilgenommen hat? Ach, und übrigens - man kriegt hier Noten und ich bekomme garantiert eine Sechs? Weißt du noch, dass du mal geglaubt hast, ich würde einen Studienplatz in Princeton kriegen?
Sie rief Esi an. Es klingelte und klingelte, dann sprang die Mailbox an. Ama legte auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Esi jobbte in den Semesterferien als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Chemielabor. Und wenn Esi im Labor oder in der Bibliothek war - und dort war sie meistens -, stellte sie immer ihr Handy aus.
Und jetzt?
Ama legte den Kopf auf ihren Arm. Nicht heulen, ermahnte sie sich.
Es gab noch zwei Telefonnummern, die sie auswendig wusste. Diese Nummern hatte sie schon gekannt, bevor sie ihr erstes Handy bekommen hatte.
In diesem Moment kam der Ranger wieder ins Zimmer. »Und, jemanden erreicht?«
»Bis jetzt noch nicht. Wissen Sie, wie spät es ist?«
»Fünf nach vier«, sagte er nach einem Blick auf seine Uhr.
»Und, äh, welcher Tag ist heute?«, fragte Ama verlegen.
Bob lächelte. »Als ich das letzte Mal auf den Kalender geschaut hab, war es Freitag.«
Ama nickte. Es war ihr zu peinlich, nach der Zeitzone zu fragen. Vielleicht waren ihre Eltern und Bob bei Tante Jessie zum Abendessen, die eigentlich gar keine richtige Tante war, sondern eine ältere Frau, die ihre Mutter aus der Kirchengemeinde kannte.
»Und haben Sie die Nummer rausgefunden? Haben Sie jemanden erreicht?«, fragte sie stattdessen.
»Noch nicht. Die Leute in der Zentrale suchen sie für mich raus.«
Der Ranger ging wieder in den Nebenraum und Ama starrte wie hypnotisiert auf das Telefon.
Dann wählte sie die Nummer des Menschen, der - abgesehen von ihrer Mutter - garantiert immer rangehen würde, wenn sie anrief.
»Hallo?«, kam gleich nach dem ersten Klingeln.
»Polly?«
»Ama? Bist du das?«
»Ich bin’s. Ja.« Amas Kehle schmerzte. Es war seltsam, hier in der tiefsten Wildnis, nach ihrem schrecklichen Martyrium, eine so vertraute Stimme zu hören. Sie war kurz davor, sich einzureden, dass sie sich das alles nur eingebildet hatte.
»Wo bist du?«
»Ich... ich weiß es nicht.« Polly war jemand, dem sie das offen sagen konnte. Obwohl es eigentlich eher etwas war, das besser zu Polly gepasst hätte als zu ihr.
»Bist du noch auf der Wanderung? Dieser Bergtour?«
»Ja. Ich bin gerade in einer Ranger-Station, weil ich meine Gruppe verloren und mich dann verirrt habe.«
»Was? Oh nein, Ama!«
Ama fühlte Tränen aufsteigen. »Doch.«
»Hast du schon mit deinen Eltern geredet?«
»Nein, die sind nicht zu Hause. Ich hab eine Nachricht aufs Band gesprochen.«
»Ist mit dir denn alles in Ordnung?«
Polly war bei ihr und schon war alles anders. Polly konnte so gut zuhören.
Ama holte tief Luft, dann schauderte sie kurz. »Ich glaub schon.«
»Und was machst du jetzt?«
»Ich will nach Hause.«
»Du meinst, so richtig nach Hause, nicht nur zu eurem Lager oder wo ihr da wohnt?«
»Ja.«
»Jetzt sofort?«
»Sobald ich hier wegkann.«
»Aber warum?«
Ama holte tief Luft. »Warum? Weil ich diese Tour hasse! Weil ich Wanderungen hasse! Weil ich alle anderen hier hasse! Und weil ich meine Haare hasse! Ich will einfach nicht mehr hierbleiben.« Bei Polly konnte man jammern, ohne dass sie später dauernd darauf herumreiten würde. Grace dagegen rieb einem sämtliche Peinlichkeiten, die man sich je hatte zuschulden kommen lassen, immer wieder unter die Nase.
»Aber musst du nicht bis zum Schluss dort bleiben?«, fragte Polly.
»Das ist mir total egal. Sobald meine Eltern anrufen, sag ich ihnen, dass ich sofort nach Hause will.«
Polly schwieg kurz. »Aber ist es denn nicht auch ein bisschen schön da, wo du bist? Die Berge,
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