Summer Sisters
Venen bläulich durch die Haut schimmerten. Die dunklen Härchen wirkten dichter und länger, und ihr silbernes Lieblingsarmband, das Dia ihr in einem Antiquitätengeschäft in Philadelphia gekauft hatte, rutschte fast über ihr dünnes Handgelenk.
Als sie in ihr Zimmer zurückging, ließ sie die Arme kreisen, um möglichst viele Kalorien zu verbrennen.
Verbrennen. Was für ein seltsames Wort dafür.
Sie musste sich beeilen; um zehn passte sie auf die Rollins-Kinder auf und am Nachmittag sollte sie den kleinen Ryan hüten. Mrs Rollins hatte sie Ryans Mutter weiterempfohlen, und sie wollte einen guten Eindruck machen.
Dia hatte ihr zwar gesagt, dass sie einen Teil der Fahrt nach New York zahlen würde, damit sie nicht mehr so viel babysitten müsste, aber Polly machte ihren Job gern und war froh, dass sie tagsüber etwas zu tun hatte.
Die Fahrkarten nach New York hatte sie bereits online gebucht, eine für sich und eine für Dia. Ihre Mutter würde zwar bei der Model-Tagung nicht dabei sein, aber sie hatte ihr versprochen, davor und danach etwas mit ihr zu unternehmen und zum Beispiel ins Metropolitan Museum zu gehen.
Auch bei der großen Abschluss-Show, bei der alle Models über den Laufsteg gehen würden, konnte sie nicht dabei sein, weil sie sich mit ihrem Galeristen traf, aber das machte Polly nichts aus.
Obwohl die Tagung erst in ein paar Tagen stattfand, hatte Polly schon angefangen zu packen. Ihr Koffer stand aufgeklappt in ihrem Zimmer, und sie legte immer mal wieder etwas hinein, das sie dann oft wieder herausnahm und dafür etwas anderes reinlegte. Gestern hatte sie ihren »Das Leben der Supermodels«-Hefter eingepackt, aber heute hatte sie ihn wieder herausgenommen. Vermutlich interessierte sich auf
der Tagung sowieso niemand dafür. Sie betrachtete das Bild auf dem Umschlag und kam sich plötzlich blöd vor, obwohl sie damals, als sie es gezeichnet hatte, stolz darauf gewesen war.
Ama und Jo fehlten ihr so.
Sie hatte schon so lange ohne Freundinnen auskommen müssen, dass sie allmählich befürchtete, sie könnte überhaupt keine richtigen Freundschaften mehr eingehen oder selbst keine gute Freundin mehr sein. Es gab niemanden, der sie besser kannte als Ama und Jo, nicht einmal sie selbst. Niemand wusste so gut wie die beiden, was sie brauchte. Sie waren die Einzigen, die ihr helfen konnten, sie selbst zu sein. Ohne sie kam sie sich orientierungslos und verloren vor.
Der Gedanke an die Highschool verursachte ihr Übelkeit. Wie sollte sie das nur ohne Ama und Jo schaffen?
Die E-Mail von Jo hatte ihr zwar Hoffnung gemacht, aber sie hatte Angst, sie könnte sich zu viel davon erwarten. Wahrscheinlich war es besser, wenn sie das Alleinsein schon einmal übte.
In der Nacht konnte Jo nicht einschlafen. In T-Shirt und Boxer-Shorts tappte sie ins Wohnzimmer hinunter und kuschelte sich ins Sofa. Im schummrigen Mondlicht sah sie, dass die Sachen ihres Vaters immer noch überall herumlagen und die Gläser immer noch ohne Untersetzer auf dem Tisch standen. Jo fand, dass es gemütlich aussah.
Der Raum war von nach Gras duftender Sommerluft erfüllt und sie spürte einen wehmütigen Stich im Herzen. Früher, als Finn noch gelebt hatte, hatte ihre Mutter die Fenster immer offen stehen gehabt. Sie wurde traurig, als sie daran dachte, wie es früher gewesen war.
Warum hielt ihre Mutter das Haus immer so steril sauber?
Warum durfte nirgendwo etwas herumliegen, und weshalb musste die Haushälterin Mona alles sofort wieder aufräumen, fast bevor man überhaupt Gelegenheit gehabt hatte, Unordnung zu machen? Ihre Mutter verwendete so viel Geld und Zeit darauf, dass das Haus und sie selbst - ihre Figur, ihr Gesicht, ihre Haare - immer perfekt aussahen. Sie nannte das »ihr Kapital«. Jo hatte immer geglaubt, sie würde das alles für die Familie tun, aber jetzt war sie sich da nicht mehr so sicher. Was steckte wirklich hinter ihrem Perfektionismus?
Es war so ungewohnt, die Sachen ihres Vaters im Wohnzimmer herumliegen zu sehen, die Bücher und aufgeschlagenen Zeitschriften, die er gerade las, das halb gelöste Kreuzworträtsel, das Sudoku mit den fein säuberlich ausgefüllten Kästchen. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass ihr Vater Sudokus machte.
Sie staunte noch immer darüber, dass ihr Vater sich hier, in dieser Küche, selbst das Kochen beigebracht hatte, wo er früher noch nicht einmal zum Essen nach Hause gekommen war. Und dabei hatte sie geglaubt, er würde jetzt, wo ihre Mutter nicht mehr da
Weitere Kostenlose Bücher