Summer Sisters
war, bis spätnachts im Krankenhaus bleiben oder mit hübschen Patientinnen oder Krankenschwestern Partys feiern. Aber das Gegenteil war der Fall. Wenn ihre Mutter nicht da war, kam er nach Hause.
Ganz tief in ihrem Inneren keimte eine Erkenntnis. Jo ahnte plötzlich, wie furchtbar unglücklich sie alle gewesen waren und wie viel diesem Unglück zum Opfer gefallen war.
Nachdem Finn gestorben war, hatte ihr Vater sich immer mehr in seine Arbeit vergraben. Schon damals hatte sie gespürt, dass er sich dadurch ablenken wollte und hoffte, dass er dadurch vergessen könnte.
»Man möchte das Gefühl haben, etwas kontrollieren zu können«, hatte er einmal während einer der wenigen Familientherapiesitzungen
gesagt, die ihre Mutter abgebrochen hatte, weil sie es nicht ertragen konnte, über Finns Tod zu sprechen.
Jo dachte an den Ordnungswahn ihrer Mutter und an ihre makellose Erscheinung und an ihre zwanghaften Ermahnungen, ein Glas immer auf einem Untersetzer abzustellen. Was wollte sie damit unter Kontrolle halten? Sie war ja nicht immer so gewesen.
Ihr Magen knurrte. Obwohl sie vorhin so viel gegessen hatte, war sie schon wieder hungrig. Sie ging in die Küche und lud sich die Reste des Abendessens auf einen Teller. Als sie den Tiefkühlschrank öffnete, um sich Eiswürfel für ihr Wasser zu holen, sah sie darin drei von weißem Frost überzogene Packungen Erbsen liegen.
Ihr Vater würde vielleicht nie offen mit ihr darüber reden können, was mit ihrer Mutter geschehen war. Wahrscheinlich würde er ihr gegenüber auch immer etwas befangen sein und sich scheuen, ihr Fragen zu stellen. Vielleicht würde er niemals ihre Handynummer auswendig wissen.
Aber da waren Erbsen, wo es lange Zeit keine Erbsen gegeben hatte. Liebe sah nicht immer so aus, wie man es erwartete.
21
Früh am Morgen saß Ama am Rand der Welt und fragte sich, warum sie so dumm war, sich dort freiwillig hinunterzustürzen.
»Jonathan ist der Nächste, und dann bist du dran!«, rief Maureen ihr zu.
»Aber ich hab gedacht, ich wäre die Letzte«, gab Ama mit schriller Stimme zurück.
»Du bist die Letzte«, sagte Maureen freundlich.
Obwohl sie kein Wort darüber verloren hatte, wusste Ama, wie erleichtert und froh Maureen darüber war, dass sie sich entschlossen hatte zu bleiben.
Jonathan stellte sich an den Rand des Felsens, und Ama sah entsetzt zu, wie er ohne eine Sekunde zu zögern in die Tiefe sprang. Er hatte nicht einmal seine Seile überprüft und auch seinem Sicherungsmann kein Zeichen gegeben. Vermutlich hätte er sich sogar ohne Seile hinuntergestürzt.
»Er ist verrückt!« Sie schüttelte fassungslos den Kopf.
»Stimmt. Und dumm«, sagte Jared.
»Wenn ich zur Reglosigkeit erstarre, heißt das also, dass ich klug bin?«, fragte sie.
»Ganz genau.« Jared spähte in den Abgrund und beobachtete Jonathans rasanten Abstieg. »Okay, er ist unten.« Er schüttelte den Kopf. »Wahnsinn. Schneller geht es wahrscheinlich nicht mal im freien Fall.«
Ama stand zögernd auf. »Tja, dann bin ich wohl jetzt dran, oder?«
Sie war so in Seile und Gurte eingewickelt, dass sie sich kaum rühren konnte.
»Ja.«
»Und ich mache das jetzt wirklich?«
»Ja!«, sagten er und Maureen wie aus einem Mund.
Ama ging langsam auf den Abgrund zu. Sie wagte nicht, hinunterzuschauen. Wenn sie noch nicht einmal hinunterschauen konnte, wie sollte sie dann hinunter klettern ?
Maureen war ihre Sicherungsfrau, Jared half ihr beim Anseilen und Einklinken der Sicherungshaken. Ama prüfte jedes Seil und jeden Haken fünfzehnmal.
»Ich weiß, dass du es schaffst.« Jared lächelte ihr aufmunternd zu.
»Glaubst du das wirklich?«, fragte sie ernst.
»Klar.«
»Na los, zeig’s ihnen!«, rief Maureen.
Ama machte einen kleinen Schritt auf die Kante zu. Ihre Hände waren schweißnass.
Sie wagte sich noch ein Stückchen näher heran und warf einen Blick in den Abgrund. Was sie sah, war einfach umwerfend.
Wie unglaublich schön!
Ein kobaltblauer Fluss schlängelte sich glitzernd durch ein Tal voller sattgrün-bunt blühender Blumenwiesen. Dahinter ragten graublaue Berge auf, vor denen sich dunkle Kiefern abzeichneten. Es war die Landschaft von dem Poster in der Ranger-Station.
Sie holte tief Luft - fast kam es ihr so vor, als würde sie zum ersten Mal in diesem Sommer wirklich Luft holen - und blickte hinauf zum endlosen tiefblauen Himmel.
Während der gesamten wochenlangen Wanderung hatte sie meistens auf den Boden gestarrt und kannte
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