Summer Sisters
erzählen, was genau passiert ist.«
Während des gesamten Todesmarschs zur gefürchteten Felswand der Nimmerwiederkehr wich Noah nicht von Amas Seite. Immer wieder startete er den Versuch, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber sie antwortete nur einsilbig.
»Wie geht es deinen Füßen?«
»Besser.«
»Was ist mit den Blasen?«
»Abgeheilt.«
»Toll, das ist super.«
Schweigend liefen sie weiter.
»Möchtest du ein bisschen Wanderfutter? Ich hab noch ein Tütchen«, fragte er irgendwann.
Wanderfutter war mittlerweile so rar wie Gold, niemand hatte mehr welches. Als Ama an die M&Ms dachte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen, aber sie blieb stark.
»Nein danke.«
Sie überquerten einen kleinen Bach, und Ama stellte überrascht fest, wie leichtfüßig und trittsicher sie von Stein zu Stein sprang. Ihren zwanzig Kilo schweren Rucksack spürte sie kaum noch, auch nicht als der Weg in steilen Serpentinen einen Hügel hinauf- und auf der anderen Seite wieder hinunterführte.
»Hast du schon mal was von der Model-UN gehört?«, fragte Noah nach einer Weile.
Ama nickte. Ihre Schwester Esi hatte an dem Projekt teilgenommen, bei dem Schüler und Studenten auf der ganzen
Welt die Arbeit der Vereinten Nationen nachstellten und in simulierten Konferenzen als diplomatische Vertreter die Meinung ihres Landes vertraten. Sie hätte auch gern einmal mitgemacht, hatte aber keine Lust, ihm das zu erzählen.
»Warum?«, fragte sie nur.
»Du solltest dich für nächstes Jahr bewerben.«
»Meinst du?«
»Ja, das ist bestimmt interessant. Und wir könnten was zusammen machen.«
Sie sah zu Boden und schwieg.
»Er geht allerdings erst im Frühling los.« Noah lachte verlegen. »Wahrscheinlich wäre es sinnvoller, wenn ich dich einfach gleich nach deiner Telefonnummer fragen würde.«
Ama blieb abrupt stehen. Jetzt war der Moment gekommen - sie musste ihn einfach fragen.
»Noah?«
»Ja?«
»Wieso willst du meine Nummer, wenn du mit Carly rumknutschst?« Sie hatte es nicht länger zurückhalten können.
Noah starrte sie verblüfft an. Plötzlich verwandelte sich sein Gesichtsausdruck, und er sah so entrüstet aus, als hätte sie ihn beschuldigt, Bambi ermordet zu haben.
»Hä? Wovon redest du? Ich hab nicht mit Carly rumgeknutscht.«
Das klang ziemlich überzeugend. Anscheinend war er ein guter Schauspieler.
»Doch, hast du. Mindestens zweimal. Einmal sogar in unserem Zelt. Ich lag daneben und hab es hautnah mitgekriegt.«
»Ich hab nicht mit Carly rumgeknutscht - nicht ein einziges Mal!« Er sah sie wütend an. »Nicht in eurem Zelt und auch sonst nirgends. Tut mir leid, aber du redest echt völligen Quatsch!«
Auf einmal stiegen Zweifel in ihr auf. Hatte sie ihn tatsächlich hundertprozentig erkannt? War sie sich wirklich ganz, ganz sicher, dass er es gewesen war? Sie versuchte, sich an sein Gesicht in dieser schrecklichen Nacht zu erinnern - bevor sie das Zelt fluchtartig verlassen hatte und auf dem Ameisenhaufen eingeschlafen war.
Es gelang ihr nicht.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie nur einen Rücken und Haare, die sie für seine gehalten hatte, nicht aber sein Gesicht. War es wirklich möglich, dass sie sich die ganze Zeit über geirrt hatte?
»Bist du dir sicher?«, fragte sie zaghaft.
»Na, das würde ich ja wohl wissen.«
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Aber Carly hat mit allen rumgemacht«, behauptete sie dann.
»Tja, kann sein. Aber nicht mit mir.«
Er sah so sauer aus, dass sie sich richtig schämte, ihm so etwas unterstellt zu haben, aber gleichzeitig flatterte plötzlich auch ein Schwarm Schmetterlinge in ihrem Bauch.
»Vielleicht hast du’s ja vergessen«, sagte sie und grinste.
»Biest.« Er tat so, als wollte er sie auf den Arm boxen.
Sie boxte zurück, traf ihn aber aus Versehen wirklich auf den Rücken.
»Autsch.« Er versuchte, einen rechten Haken zu landen, doch sie wich ihm aus und ging lachend weiter.
Der Weg schlängelte sich den nächsten Hügel hinauf und die Fichtennadeln unter ihren Stiefeln fühlten sich an wie ein weicher Teppich. Fröhlich sah sie zum Himmel hoch. Dann blieb sie stehen und gab Noah spielerisch einen Klaps auf die Hand.
»Wann krieg ich denn endlich mein Wanderfutter?«
20
Als Jo geduscht und umgezogen die Treppe hinunterkam, hörte sie ihren Vater schon, bevor sie ihn sah. Er riss offenbar die Türen sämtlicher Küchenschränke auf und zog Töpfe und Pfannen heraus, wobei er allerdings die Hälfte davon zu Boden fallen
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