Summer Sisters
stürzen würde.
Aber das geschah nicht.
»Mach die Augen auf«, sagte Jared.
Oh. Das hatte sie ganz vergessen.
Sie öffnete die Augen und sah vor sich das Seil. Es hielt sie. Sie war überrascht, dass Jared immer noch da war, und zwar nicht winzig klein irgendwo weit über ihr, sondern genauso
groß und nah wie vorher. Der einzige Unterschied war der, dass sie seine Hände nicht mehr wie ein Schraubstock umklammerte. Stattdessen massierte er sich jetzt die Finger.
Sie machte einen Schritt an der senkrechten Felswand hinunter. Einen winzigen, zitternden Schritt. Und dann noch einen.
»Lehn dich zurück. Vertrau dem Seil.«
Sie starrte so angestrengt auf das Seil vor sich, dass sie fast schielte. Konnte sie ihm wirklich vertrauen? Im Geist sah sie Maureen am anderen Ende und war froh, dass sie es war, die sie sicherte.
Sie machte weitere Schritte. Allmählich wurde Jared kleiner.
Plötzlich zerrte eine scharfe Bö an ihr. Voller Angst verstärkte sie ihren Griff um das Seil und beugte sich instinktiv nach vorn, um ihr Gleichgewicht zu wahren.
Ihre Füße verloren sofort den Halt. Sie schrie auf und ihre Fußspitzen scharrten auf der Suche nach einem Vorsprung hektisch an der Felswand entlang. Es war so weit. Jetzt würde sie sterben.
»Ich falle!«, schrie sie Maureen zu.
Aber dann ließ der Wind nach, und als sie aufhörte, wild um sich zu treten, merkte sie, dass sie so sicher am Seil hing wie eine Spinne am Ende ihres Fadens.
Es kann überhaupt nichts schiefgehen, dachte sie, und dieser Gedanke erfüllte sie mit einem unglaublichen Hochgefühl.
Wieder stemmte sie die Füße gegen die Felswand und lehnte sich zurück. Sie hatte jetzt begriffen, dass ihre Füße nur dann Halt finden konnten, wenn sie sich mit ihrem ganzen Gewicht zurücklehnte und dem Seil vertraute. Es war wie so vieles, was sie in den letzten Wochen auf ihrer Wanderung erlebt hatte: Je unvorstellbarer und schlimmer das war, was von
einem verlangt wurde, desto eher konnte man davon ausgehen, dass es genau das Richtige war.
Sie lehnte sich so weit zurück, bis ihr Rücken fast parallel zum Boden war - vorausgesetzt, dass es da unten irgendwo einen Boden gab. So war es einfacher. Ihre Füße saugten sich förmlich an der Felswand fest. Nach einer Weile wagte sie es sogar, die Knie ein bisschen zu beugen und sich mit kleinen Sprüngen von der Felswand abzustoßen. Von unten drangen anfeuernde Rufe zu ihr, von oben hörte sie Jared und Maureen.
Sie lächelte in sich hinein und hielt einen Augenblick inne, um sich umzuschauen: das stille Tal, der wolkenlose Himmel, die Bäume, die sich mit gekrümmten Wurzeln unbeirrbar in den Felsspalten festklammerten.
Unter ihr breitete sich die Welt so weit aus, dass sie das Gefühl hatte, fast bis nach Bethesda und bis zum Pony Hill sehen zu können. Wenn sie wollte, konnte sie jenseits des Meers vielleicht sogar das kleine Haus in Kumasi und ihren Mangobaum sehen. Polly hatte ja so recht gehabt, mehr als sie hatte ahnen können. So einen Ausblick durfte man sich nicht entgehen lassen.
Von neuem Mut erfüllt, beschleunigte sie ihr Tempo und stieß sich sogar immer mal wieder schwungvoll von der Felswand ab. Als sie sich das nächste Mal umsah, war Jared über ihr kleiner als Daniel und Noah und Carly und die anderen von der Gruppe unter ihr.
Unglaublich.
Jared winkte. Jetzt wusste er, dass sie es konnte.
Ich schwebe in der Luft. Ama ließ das Seil los und ruderte mit den Armen, um zu spüren, dass um sie herum tatsächlich nichts als Luft war. Sie hatte es wirklich geschafft.
Mit immer größeren und mutigeren Sprüngen kam sie bis nach unten. Als sie erst einen und dann den anderen Fuß zitternd
auf festem Boden aufsetzte, jubelten und klatschten die anderen voller Begeisterung.
Daniel hakte sie vom Seil ab und drückte sie kurz. Dann kam Noah auf sie zu und schloss sie fest in die Arme - und Ama konnte überhaupt nicht mehr aufhören zu lächeln.
»Seil aus«, rief sie zu Maureen hoch und zog zweimal am Seil.
Ein paar Schritte von der Gruppe entfernt machte Ama einen Freudenhüpfer. Es war die reine, so noch nie gekannte Freude, die sich aus vielem scheinbar Gegensätzlichem zusammensetzte, das aber für Ama in diesem Moment mühelos zusammenpasste: die Freude, vertraut zu haben, die Freude, loszulassen, die Freude, als sich ihre Füße von der Felswand abgestoßen hatten und sie den Abgrund heruntergebracht hatten, die Freude zu fallen, die Freude über die Vergangenheit und die Zukunft,
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