Summer Westin: Todesruf (German Edition)
Einheimischer, oder führte er irgendwas im Schilde? Passten all diese Puzzleteile irgendwie zusammen? Vielleicht hatte Paul Schuler recht: Wenn man lange genug im Wald unterwegs war, stieß man auf die fragwürdigsten Aktivitäten.
Sam kam zu dem Ergebnis, dass sie ihre Bürste wohl im Wagen gelassen haben musste, und trottete in die Küche. Eine Tasse Kaffee, ein paar Minuten um zusammenzupacken, und schon würde sie auf dem Weg zum Marmot Lake sein. Das Sheriff-Büro und die Parkranger würden auch weiterhin Leute wegen Lisas Entführung und wegen illegalen Schusswaffengebrauchs im Gebiet um den Marmot Lake befragen. Zumindest hoffte Sam, dass sie das taten. Die Autopsie oblag dem FBI, das über genügend Möglichkeiten verfügte, Lisas Verwandte und Bekannte ausfindig zu machen.
Sam hatte es satt, Schatten hinterherzujagen. So wie die Wasserleitungen zu Hause war auch die Wildnis ihr Spezialgebiet. Da kannte sie sich aus. Und irgendwann würde sie den Marmot Lake schon noch dazu bringen, seine Geheimnisse preiszugeben.
Als das Koffein seine Wirkung tat, fiel ihr wieder ein, dass heute der Tag war, an dem sie sich die Fäden aus der Lippe ziehen lassen konnte. Sie fuhr zu der winzigen Notfallklinik in Forks. Nicht mehr auszusehen wie Frankensteins Braut, war den kurzen Schmerz beim Fädenziehen durchaus wert.
Auf ging es zur nächsten schwierigen Aufgabe – die Berichte für Hoyle erstellen. Von der Poststelle des Verwaltungsgebäudes aus faxte Sam den unterschriebenen Vertrag an Best. Sie hoffte, der Faxverkehr würde nicht aufgezeichnet und sie handelte sich keine Rüge dafür ein, dass sie auf Kosten des Staates private Korrespondenz erledigte. Dann zwang sie sich an den Schreibtisch, den man ihr zugeteilt hatte. Zusammen mit anderen auf Zeit Angestellten teilte sie sich einen Uraltcomputer. Während der technologische Dinosaurier langsam zum Leben erwachte – wobei er Geräusche von sich gab wie eine Kaffeemühle –, wischte Sam erst mal die dünne Staubschicht von Tastatur und Bildschirm. Sie hätte ihren Laptop von zu Hause mitbringen sollen. Andererseits war genau das der Reiz dieser Anstellung gewesen, mal von dem ungesunden Tempo und Chaos der Hightech-Welt wegzukommen.
Sam sah aus dem Fenster. Bodennebel waberte zwischen den Bäumen hindurch wie Geistergestalten. Sie liebte diese geheimnisvollen feuchten Wolkengebilde, die vom Ozean hereintrieben. Aufgesogen vom Wald und eingekesselt von den hohen Gipfeln der Olympic Mountains, würde der Nebel in den Niederungen liegen bleiben wie ein Kaltblütler, der sich erst bewegen kann, wenn er von der Sonne erwärmt wird.
In der Hügellandschaft im südöstlichen Kansas, wo sie aufgewachsen war, gab es nur sehr selten Nebel. Durch einen dunstverhangenen Wald zu wandern, empfand sie als ganz besonderes Vergnügen. Die Bäume waren in urzeitliche Feuchtigkeit gehüllt, über sich hörte man die gedämpften Flügelschläge nicht sichtbarer Vögel, und zwischen den Farnwedeln streckten diamantene Kerzenleuchter aus Spinnweben ihre Arme aus.
Bis zum Mittag würde sich der Nebel aufgelöst haben. Sam drehte den quietschenden Stuhl wieder zum Bildschirm und hämmerte so schnell sie konnte auf die Tasten ein. Als Erstes fertigte sie den Bericht über Lisa an, den sie Hoyle versprochen hatte. Sie gab alle Gespräche mit ihr wieder und ließ auch die Unterhaltung mit ihren Kollegen vom Wegetrupp sowie die Inspektion ihres Zimmers nicht aus. Dann erstellte sie den Bericht über den Vorfall am Marmot Lake. Als sie ihn am Bildschirm noch einmal durchlas, musste sie eingestehen, sich nicht gerade wie eine professionelle Ermittlerin verhalten zu haben. Den Zusammenstoß mit Raider ließ sie aus, vermerkte aber die Sichtung eines großen männlichen Bären, der vermutlich verwundet war. Unter »Schlussfolgerungen« tippte sie ein: Nummernschild nachgehen, Ermittlung im Gebiet rund um den See fortsetzen .
Sie mailte die beiden Berichte an Hoyle, dann klickte sie das blinkende Ikon für Posteingang oben am Bildschirm an. Die meisten Mails stammten vom Verwaltungsbüro, die üblichen Informationen über den richtigen Gebrauch von Formblättern, die Verteilung von Geldmitteln oder eine weitere Neuorganisation hochrangiger National-Park-Service-Manager, die niemand kannte. Eine Mail, von Peter Hoyle an alle Angestellten verschickt, enthielt Empfehlungen zum Umgang mit Lisas Tod – im Wesentlichen eine Warnung, nicht mit der Presse zu reden. Eine weitere, nur an Sam
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