Suna
einen Platz in der Kinderlandverschickung zu bekommen. Es gab nur noch einen einzigen. Sie schickte Frieder mit. Den Ältesten.
Magdalena und Konstantin blieben bei ihr.
»Jetzt sind wir zwei. Das Mädchen zählt halb, ich esse euch nichts weg, und der Junge. Wir sind zwei.«
Giese aß, wie sie angekündigt hatte, nur die Reste. Nach den Mahlzeiten stand sie in der Küche des Hauses und spülte die Schüsseln. Oft genug war nichts darin übrig, und oft genug gab es nicht einmal Brot. Roswitha ging dazu über, auf ihrem Teller unauffällig kleine Mengen Essen liegen zu lassen, nachdem sie Giese einmal dabei beobachtet hatte, wie sie im Küchenabfalleimer nach Kartoffelschalen gesucht hatte.
Während Konstantin sich im Stall und auf den Feldern nützlich machen konnte und aus den Pferdeboxen überhaupt nicht mehr rauszubekommen war, hörte Giese von ihrem Ältesten ganze drei Jahre lang nichts.
Weder die Volkswohlfahrt noch das Rote Kreuz konnten Auskunft geben über seinen Verbleib. Roswitha litt mit ihr, obwohl Giese nicht mit ihr redete. Magdalena wich ihrer Mutter nicht von der Seite.
Als der Junge schließlich einige Monate nach Kriegsende zurückkehrte, war er gänzlich abgemagert und hatte büschelweise Haare verloren. Sein Körper war übersät mit Hämatomen und auf der Schulter hatte er eine eiternde Wunde, die nicht heilen wollte. Er sah niemanden an.
Er sprach nicht mehr.
Wenn sich ein Erwachsener näherte, floh er und kam erst in der Nacht zurück. Er schlief auf dem Boden vor seinem Bett und rührte oft über Tage kein Essen an.
Als Giese eines Morgens den Schrank für die Bettwäsche neu einräumen wollte, fand sie einen Kissenbezug voller alter Brotkanten. In der Ecke dahinter kauerte ihr Sohn und sah sie an aus blicklosen Augen, in der Hand ein Stück hartgetrockneten Wecken, am ganzen Körper zitternd. Um ihn herum eine Lache Urin.
Sie konnte Gustav nicht sagen, was sie dem Jungen angetan hatte.
Magdalena ging inzwischen täglich zu Märthe, um den Schulstoff zu üben und zu lesen, und einmal sagte Märthe, sie solle die Kinderbibel doch einfach mit nach Hause nehmen, was sie davon hielte?
Magdalena nahm das Geschenk freudestrahlend entgegen. Eng drückte sie das große Buch an sich, kletterte durch den Riss in der Mauer und sah ihren Vater auf seinem Stühlchen sitzen. Er beobachtete sie.
»Was hast du da?«, fragte er.
»Ein Buch«, sagte Magdalena, erschrocken und voller Sorge, er könnte es ihr wegnehmen oder verbieten. Aber vielleicht hätte er nichts gegen die Bibel?
»Die Bibel also«, sagte Gustav und sah sein Kind an.
»Setz dich her und lies«, befahl er schließlich.
Magdalena setzte sich auf das trockene Gras zu seinen Füßen und schlug das Buch auf. Sie las. Ohne Fehler. Satz um Satz.
Jeden Nachmittag las sie, Gleichnis um Gleichnis, und der Vater war ruhig wie sonst nie.
»Frag ihn, ob er mit uns zur Messe geht«, sagte Märthe, als sie das sah.
Von da an ging Gustav sonntags mit seiner Tochter zur katholischen Kirche hinunter, suchte unbeholfen einen Platz in den Sitzreihen, grüßte nach hier und da, lüpfte seinen Hut und sang nach ein paar Wochen mit ganz wohltönender Stimme die Liturgie mit, während nebenan im Stahlwerk eine zusätzliche Wochenendschicht eingesetzt wurde, weil man in Deutschland wirtschaftlich so langsam wieder auf die Beine kam.
Schließlich fand er eine Stelle als Hausmeister in einer katholischen Schule.
Niemand strich die Regenrinnen so präzise wie er, während die Kinder, fast alle Kriegswaisen, in ihren Klassenzimmern sangen. Niemand war mit der Zentralheizung zurechtgekommen, bis Gustav da war. Er reparierte die Anlage und jeden einzelnen Heizkörper in den Klassenräumen, während die Kinder ihre Psalmen wiederholten. Er fegte den Hof, während sie zu dritt oder zu viert unter der Linde über ihren Hausaufgaben für die Nachmittagsstunden saßen.
Freitags nahm Giese sein Geld entgegen und lächelte manchmal dazu, und sonntags sagte der Pfarrer an der Kirchenpforte zu ihm: »Beten Sie, festigen Sie Ihren Glauben. Gott verzeiht.«
Die Söhne wurden einer nach dem anderen mit der Schule fertig. Konstantin begann eine Lehre, und Frieders Schulleiter legte den Eltern nahe, ihn auf eine weiterführende Schule zu schicken, vielleicht zu den Ordensbrüdern in der Nachbarstadt. Ein Kloster, da wäre der schweigsame, aber begabte Junge gut aufgehoben und könnte seinen Platz im Leben finden, so sagte der Schulleiter bei seinem
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