Suna
nach alle meine Verwandten treffen. Von mehreren Hundert war die Rede, mir ist ganz schwindelig.
Cem hat schon genaue Pläne gemacht, weil es anscheinend Regeln gibt für solche Besuche, damit man niemanden bevorzugt, indem man zuerst hierhin und nicht dorthin geht, was man auch mir, der Deutschen, nicht so leicht verzeihen würde, denn ich komme als Tochter.
Ich kenne solche Regeln nur aus Büchern und Geschichten, wie ich die ganze Türkei nur aus Büchern kenne und beschämt gestehen muss, wie überrascht ich war, dass man auf Bildern aus Istanbul kaum Frauen mit Kopftuch sieht.
So eng sind meine Vorstellungen gewesen, so rechtwinklig und beschränkt. Welche Türken kannte ich denn schon? Berliner Viertel kannte ich, Kreuzberg. Türkische Geschäfte. Die blonde Schneiderin meiner Großmutter Irma. Bei jeder Hose und jedem geänderten Rock war es anschließend Thema gewesen, dass sie blond ist. Echt blond und echt türkisch.
Da geht sie hin, meine Zuversicht.
Mit meinen dunklen Augen, den schwarzen Haaren und dem dunklen Teint sehe ich zwar aus wie die Cousinen. Aber ich bin kein Jota türkischer als jede einzelne meiner deutschen Verwandten. Oder doch?
Ich kann nicht einmal die Sprache genügend, um ein Buch zu lesen! Genau genommen kenne ich kein einziges Gericht außer Döner und Börek, kein Lied, keinen Film.
Ich habe nicht die blasseste Ahnung vom politischen System, erinnere mich mit Mühe an kurdische Demonstrationen auf deutschen Autobahnen vor vielen Jahren, reflexhaft stellt sich ein verschwommen solidarisches Gefühl ein. Ungefähr ein oder zwei Argumente könnte ich austauschen über das Für und Wider eines EU -Beitritts, sagen wir, auf Schlagzeilenniveau.
Was aber, wenn die Familie, die ich besuchen werde, meine Familie, in politischen Fragen ganz anderer Meinung ist als ich? Wie weit wird mich mein Halbwissen tragen? Gibt’s denn kein Buch dazu irgendwo? Wir Deutschen lesen doch so gern zuallererst ein Buch!
Meine Unruhe hat sich auf dich übertragen, du bist so aufgekratzt wie schon lange nicht mehr. Am liebsten würde ich alles hinschmeißen. Nichts packen. Keine Wörter ler nen. Obwohl »Aspirinim nerede« ganz nützlich sein könnte, ehrlich gesagt. Wo ist bloß mein Aspirin?
Du lachst! Du lachst immer, wenn ich Türkisch lerne und die Wörter nachspreche. Ich glaub, du magst sie.
Ich habe Bauchweh vor Aufregung, verdammt.
Ganz normal!, hat Cousine Hatice gesagt.
Reisefieber?
Normal!, haben sie alle gerufen, egal wen ich am Telefon hatte. Das haben bei uns in der Familie alle, Flugangst. Kennen wir. Welche Tabletten nimmst du?
Tabletten? Ich nehm doch keine Tabletten. Lieber bleibe ich daheim.
Willst du nicht deinen Vater sehen?
Soll ich euch was sagen? Ich sehe ihn auch so.
Im Traum?
Ja, im Traum.
Ja. Normal, sagen alle, normal!
Du bist eine von uns.
»Willst du etwa kneifen?«, hat auch Julka heute mitleidlos gefragt, und ich habe sie böse angestarrt und gesagt, dass sie ja wohl die Klappe halten könnte, wer hätte mir den Mist denn schließlich eingebrockt? Hätte sie damals ein bisschen besser aufgepasst, was sie sagt, müsste ich mir jetzt nicht ins Hemd machen, so sagte ich es ihr, ruhig raus aus der guten deutschen kontrollierten Fassung.
»Du kannst ja richtig schimpfen«, hat sie gesagt und gelacht, »bist auf jeden Fall meine Tochter.«
Das bin ich ohnehin. Wenn ich es auch auf abenteuerliche Weise geworden bin. Fast so abenteuerlich, wie sie selbst zur Welt gekommen ist. Und wenn man es genau nimmt, gibt es mich nur, weil sich alle Beteiligten an die islamischen Gesetze gehalten haben, Gesetze, die einem Mann eine Frau und noch eine Frau erlauben – das sage ich lieber nicht, aber reizen würd’s mich ja schon!
»Weischd schon, dass ich faschd gestorben wär bei der Geburt?«, sagt Julka oft. »Da wär ich dir erspart geblieben«, und sie lacht. Dann beginnt sie, von Serbien und ihren Eltern Biljana und Ilija zu erzählen, und lässt dabei auch die kleinste Nebengeschichte nicht aus, weil es alles ist, was ihr von der Heimat geblieben ist, und alles, was sie an mich weitergeben kann.
Julka
Im serbischen Dorf, in einem dieser typischen niedrigen Bauernhäuser, wurde meine Mutter geboren. Eines von de nen, die zurückgesetzt von der Straße stehen und gern von einem alten Baum beschattet sind, welcher das in ihrem Fall ist, weiß sie nicht, und auf den alten Bildern kann auch ich es nicht identifizieren. Neben dem Haus kann man den Ziegenstall
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