Suna
zerbarst das Glasschirmchen zwischen ihren Händen, und das Letzte, was sie spürte, waren die dünnen Scherben, die sich in ihre Stirn bohrten. Es tat nicht einmal weh.
Als sie wieder aufwachte, lag Magdalena zusammengerollt in ihrem klammen Bett. Ein dicker Verband war um ihren Kopf gewickelt, ein neues Lämpchen hing, unerreichbar für sie, nun an einem hohen Balken über ihr und tauchte das Kämmerchen in ein diffuses, viel zu schwaches Licht.
Sie war allein auf dem halbdunklen Dachboden und versuchte, sich an den Sturz zu erinnern. Aber die Erinnerung mischte sich mit den Bildern vom Mann auf dem Hof, von den Kindern, die sie aus ihren Spielen ausschlossen, und vom stummen Frieder, und sie erlebte zum ersten Mal ganz bewusst, wie eine Erinnerung einfach zerbrach. In zwei Teile. In drei. In hundert. Im Halbschlaf fügten sich die Bruchstücke wieder neu zusammen, ohne den Sturz, ohne das irritierende Fremdlingsgefühl beim Einzug des Mannes, der sich selbst Vater nannte. Ohne den Verrat an Konstantin – ein wunderbares, selbstgeschaffenes Mosaik.
Darin war ein schmerzlich vermisster Vater mit offenen Armen empfangen worden, und endlich konnten sie eine Familie sein, eine richtige Familie, in der alles seine Ordnung hatte. Eine Familie, wie sie nur wenige ihrer Spielkameraden hatten, eine vollständige Familie. Mit glücklichen Eltern. Und fröhlichen Brüdern. Auch mit Konstantin. Vielleicht wird der endlich bestraft werden für seine Missetaten, jetzt, wo Vater wieder da ist. Da ist nämlich einer stärker als Konstantin.
Gustav jedoch saß oft stundenlang auf einem Holzstuhl im Garten neben dem Hühnergehege, unfähig, sich ein zugestehen, was er da tat. Einer, den man manchmal im Keller fand, ein Werkzeug in der Hand und wie in Trance. Der nicht mehr wusste, was er vorgehabt hatte, und seine rasende Wut darüber an der Tochter ausließ. Denn sie war es, die ihn fand, weil die Mutter stets Magdalena schickte.
Da war einer wieder zurück in einem Leben, das ihn nicht hineinließ, weil er ein ganzes Jahrzehnt nicht dabei gewesen war und niemand einen Platz für ihn frei gehalten hatte. Einer, der das Haus nur mit glänzend geputzten Schuhen verlassen konnte, nie ohne sein gutes Hemd und das neue Sakko, das Giese und Magdalena für ihn genäht hatten.
Einer, den die Brüder aus dem Kaufmannsladen abholen mussten, weil er dort das Gemüseregal zertrümmert hatte. Wie die anderen Kundinnen sagten, ohne Anlass. Sie waren es auch, die Gustav eine Anzeige ersparten und beim Aufräumen halfen. Man hielt zusammen damals, denn die eine oder andere hatte ja einen »Ebensolchen« zu Hause. Eine hatte sogar in der Kreisstadt eines dieser neuartigen Fernsehgeräte für das Wohnzimmer gekauft, weil sie das richtungsleere Starren ihres Mannes nicht mehr ertragen konnte.
Magdalena musste an Gustav vorbei, wenn sie zu Märthe ging, aber wenn er bei den Hühnern saß, sah er sie meistens nicht, so tief war er in Gedanken versunken. Es hatte wohl nicht geholfen, dass er Giese dicke Pakete nach Hause geschickt hatte mit feinen Stoffen und Damastdecken aus den französischen Häusern, die sie sich eins nach dem anderen unter den Nagel gerissen hatten auf ihrem Vormarsch. Wobei das nicht alles war, was sie getan hatten, aber daran durfte er nicht denken. Giese hatte ihm nicht verziehen. Wie auch?
»Du bist ein Trottel, und dein Bruder ist ein nichtsnutziger hinterfotziger Dieb«, hatte Giese zornesrot gesagt. Geschrien. Weil er zugeben musste, dass er Arndt Geld gegeben hatte für eine Autowerkstatt, die er kaufen wollte, für sich und seine Frau Roswitha (»die fette Unke«, sagte Giese). Geld, das Giese beiseitegelegt hatte, weil sie schon seit fünfzehn Jahren plante, ein Stoffgeschäft zu eröffnen.
Von »lohnenden Beteiligungen« hatte dagegen Arndt gesprochen. Vom Großrauskommen an der neuen Landstraße, vom Geschäft mit Automobilen, einer Tankstelle, der Technisierung. Ihn und seine praktischen Hände bräuchte man in der Werkstatt, hatte Arndt gesagt. Gustav hätte doch da noch das Sparbuch von Giese, für ihr Stoffgeschäft? Mit Verlusten sei am Anfang zu rechnen, klar, aber das würde man reinholen, die Neuen an der Macht wären da ja ganz anders eingestellt als die bisherigen Pfeifen in Berlin. Gustav dachte kurz darüber nach, dass die »Neuen« ja schon lange nicht mehr neu waren und wie wenig geheuer sie ihm bisher vorgekommen sind.
Arndt ging im kleinen Garten auf und ab.
Gustav versuchte, die
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