Suna
nicht nur jeden Sonntag zur Messe ging, sondern auch unter der Woche keine Gelegenheit zu Gebet und Gottesdienst ausließ und beinahe noch klösterlicher lebte als ihr Ältester.
Einen nicht unwesentlichen Beitrag zu ihrem Erfolg in Jorgensens Geschäft leistete allerdings das neu eröffnete Kino am Bahnhof. Mindestens einmal in der Woche ging sie mit Märthe in eine Vorstellung. Am liebsten hatte Magdalena anspruchsvolle Literaturverfilmungen und Familienkomödien, in denen Märthe sich jedoch langweilte und anschließend energisch den gemeinsamen Besuch »richtiger Filme« verlangte. Zögerlich, und ganz und gar nicht überzeugt, ging Magdalena mit ihr in Kriminalfilme und Agentenstreifen.
»War doch nur ein Film!«, rief Märthe danach jedes Mal aus, wenn Magdalena blass um die Nase aus dem Kino kam und sich auf dem Nachhauseweg immer wieder umsah, ob ihnen auch wirklich keiner folgte.
Einmal hatte sie sich wegen der Hauptdarsteller überreden lassen, einen Kriegsfilm anzusehen, aber danach hatte sie nächtelang im Traum Sirenen gehört, war Straßen entlanggerannt und hatte sich die Knie auf Treppen im Luftschutzkeller gestoßen. Sogar am helllichten Tag fand sie sich danach am Schaufenster wieder, in der Hand einen Anzug oder eine Krawatte, ohne zu wissen, warum sie dort stand. Dass sie darin ihrem Vater glich, ängstigte sie am meisten dabei.
So mied sie alles, was sie auch nur im Entferntesten an die Kriegsjahre erinnerte. Am besten gelang dies, wenn sie eine strenge Ordnung einhielt, eine Reihenfolge für Handgriffe, für Tätigkeiten, sogar für Gedanken. Nach und nach verblassten dann die bösen Kino- und Erinnerungsbilder.
Märthe sah, was in Magdalena vorging, aber sie war der Ansicht, man sollte nicht allzu viel Rücksicht nehmen auf solche Befindlichkeiten. Jetzt waren die guten Zeiten, und ein bisschen wohliger Nervenkitzel, von dem man ja immerhin wüsste, wo er herkommt, gehörte für sie einfach dazu.
Aber Magdalena fühlte sich viel wohler, wenn sie staunend beobachten konnte, wie glückliche Leinwandpaare miteinander umgingen (sie sprach die Sätze mit). Begeistert studierte sie, wie man sich kleidete, als Dame und als Herr. Und wie man sich »bei Anlässen« gab. Sie merkte sich Speisefolgen ebenso wie die Namen der Schauspielerinnen und Schauspieler (hier fand sie ein Thema mit Giese, die ab und an mit in die Nachmittagsvorstellungen ging).
Im Kino sah Magdalena aber auch, dass zu Freiheit und Glück unabdingbar ein gewisser Status gehörte. Männer, die sich gehen ließen (was schon an der Kleidung deutlich wurde!), endeten als Trinker oder Spieler. Stets jedoch gab es ein Happy End, wenn das Mädchen, das durchaus aus einfachen Verhältnissen stammen durfte, auf jeden Fall aber unverschuldet arm sein musste, sittsam war und sich aufbewahrte für den Einen, den es mit geschultem Auge zu erkennen galt.
Sobald sie wieder hinaustrat ins gleißende Tageslicht, im Winter den Mantel enger um die Schultern zog und im Sommer umfangen wurde von der hellen Wärme, und ihre Schritte durch die neue Fußgängerzone lenkte, um an den Schaufernstern ein wenig entlangzubummeln, warf sie prüfende Blicke auf die anderen Passanten und sah sich augenblicklich in ihrer Ablehnung des Gewöhnlichen wohlig und sicher eingeordnet.
Niemand bemerkte, dass Magdalena damit begonnen hatte, in ihrem Inneren kleine Räume herzurichten, die sie Stück für Stück auszustatten begann mit den Versatzstücken dessen, was sie auf der Leinwand sah. Da waren hübsche kleine Studierzimmer, großzügige Wohnräume, mondäne Gärten und Auffahrten und vor allem: Kinderzimmer. Viele kleine Kinderzimmer, detailreich ausstaffiert mit allem, was sie selbst vermisst hatte.
Das Kino und die katholische Kirche waren hier eine stählerne Allianz eingegangen.
Zweite Nacht
Heute haben wir die Reservierungen vom Hotel in Istanbul bekommen. Tom ist vollkommen unbekümmert, aber ich habe großen Respekt vor unserer Reise. Wie das sein wird, mit zwei Kindern und meiner Flugangst. Wie das sein wird, im unbekannten Land.
»Cem holt uns doch vom Flughafen ab«, sagt Tom, aber mir ist unbehaglich bei der Vorstellung, trotz der Aussicht auf Tante Ipkes Börek am Ende unserer Reise. Tante Ipek kennen wir schon, sie kommt oft nach Deutschland und lebt für ein paar Wochen bei Cem, dem Sohn ihres Neffen Do ğ an.
Wir werden von Istanbul aus am nächsten Tag weiterreisen nach Yozgat, dann in das Dorf meiner unbekannten Familie, und nach und
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