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Suna

Suna

Titel: Suna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ziefle Pia
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aufstehen soll und wofür schlafen gehen. Ich weiß es nicht.«
    Julka rückte von ihm weg und betrachtete sein Gesicht, das wieder so grau und zerknittert aussah wie immer.
    Sie sah Ilija und spürte, wie sie kein Teil mehr war von ihm, nicht von diesem Ilija.
    Und darum sagte sie nicht mehr zu ihrem Papa, ihrem Vater, den folgenden Satz, sondern zu einem Mann, dessen Lebensmüdigkeit sie umgab wie ein schwerer Mantel aus marineblauem Samt:
    »Ich habe nicht so viel Kraft, wie du denkst, Ilija. Ich bin nicht wie Mama.«
    Sie machte eine Pause, ohne den Blick von ihm abzuwenden.
    »Und außerdem«, sagte sie, »außerdem bin ich ganz normal geboren worden, oder nicht?«
    Jetzt raste Ilija die Dorfstraße hinunter, abgemagert und ungewaschen. Seine Kleider wirkten, als hätte er sie seit Weihnachten nicht mehr gewechselt, was der Wahrheit vermutlich recht nahe kam.
    »Milo! Wo steckst du!«, schrie er. Er wirbelte Staub auf, als er vor seinem Gartenzaun zum Stehen kam, und brüllte, ohne abzusteigen, unablässig Milos Namen.
    Dragan kam herüber, ebenso die Nachbarinnen von gegenüber. Man war manches gewohnt von Ilija, seit Biljana nicht mehr bei ihm war, heute klang er anders. Gefährlicher.
    »Ich dreh dir den Hals um, dir und Edita!«, schrie Ilija und schüttelte eine Faust in Richtung des Hauses, seine Stimme klang rau und verstaubt. »Das sind meine Kinder! Die bleiben hier! Hast du mich verstanden!«
    »Sei vernünftig«, rief Edita von der Haustür aus, »du machst es nicht besser mit deinem Geschrei.«
    Als wär’s nicht mehr sein Haus, stand er auf der Schwelle wie ein Gast, roch die vertrauten Gerüche nach angebranntem Kohl und getrockneten Würsten. Er sah die blätterige Farbe im Flur, er hörte die Fliegen in der Küche summen, er spürte die Dielen unter seinen Füßen, aber wie ein Gast stand er auf der Schwelle seines eigenen Hauses und hörte, wie über Möglichkeiten gesprochen wurde und eine Berufsausbildung, über Arbeit für Marek und sogar für Julka. Er sah gepackte Koffer im Hausgang stehen. Er sah den Rockzipfel von Julka.
    »Traust du dich nicht mehr raus, deinem Vater in die Augen zu sehen?«, fragte er in das Dämmerlicht im Haus­inneren, ohne hineinzugehen, ein Gast geht nicht hinein, einfach ungebeten.
    Editas Pläne waren gut. Das wusste Ilija. Gut für die Kinder.
    »Warum hast du nicht mit mir gesprochen?«, zischte er.
    »Wann hätten wir das tun sollen?«, sagte Edita. »Du bist den ganzen Tag betrunken.«
    »Ich lasse nicht zu, dass meine Kinder von hier weg­gehen!«, schrie er.
    »Ist es dir lieber, sie verrecken in deinem Dreck?«, fragte Edita aufgebracht.
    Sein Sohn ging, ohne innezuhalten, an ihm vorbei zu ­einem im Hof geparkten Lastwagen.
    Julka umarmte ihren Vater, »mach’s gut, Ilija, mach’s gut!«, und lief rasch ihrem Bruder hinterher.
    Milo saß schon im Lastwagen, sah noch einmal zu Ilija hinüber, hob die Hand zu einem Gruß und ließ sie sinken. Als beide Kinder mit ihrem Gepäck eingestiegen waren, startete er den Motor.
    Er wendete und fuhr an Ilija vorbei. Weder Milo noch die Kinder sahen ihn an. Der Lastwagen entfernte sich.
    Da sprang Ilija auf sein Moped und raste hinterher.
    »Du nimmst mir meine Kinder nicht weg!« soll er gerufen haben, bevor er mit dem Vorderrad in ein Schlagloch geriet, das Moped sich überschlug und Ilija sich genau an dem Grenzstein den Schädel zertrümmerte, der damals der Flut getrotzt hatte. Zu seiner Beerdigung kamen nur seine Kinder, Edita, Dragan und Milo.
    In der Stadt wurde Julka Schuhmacherin. Marek fing in der Munitionsfabrik an und lernte in Abendkursen Buchhaltung. Als Julka fertig war mit der Ausbildung, wurden in Jugoslawien überhaupt keine Schuhmacherinnen gesucht. In Deutschland jedoch brauchte man dringend Reinigungspersonal.
    »Tante«, sagte sie also eines Abends beiläufig zu Edita, »ich war beim Arbeitsamt. Da war eine Frau aus Deutschland, ich könnte dorthin gehen. Zwei Jahre lang.«
    »Zwei Jahre? Und dann?«, fragte Edita.
    »Dann komme ich wieder und wir kaufen das Haus im Dorf zurück«, sagte Julka.
    »Hast du dir das gut überlegt?«, fragte Edita.
    »Habe ich.«
    »Du bist jung.«
    »Die Frau aus Deutschland sagt, das ist gut«, sagte Julka.
    Edita betrachtete ihre Nichte, wie sie spindeldürr vor ihr stand, mit den langen schwarzen Haaren, dem schielenden Auge. Leicht würde es nicht werden, einen Mann für sie zu finden, und für immer konnte sie nicht bei ihr bleiben, nicht ohne Arbeit, ohne

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