Suna
Weil es die Wahrheit ist«, flüstert Julka.
»Du stichst einen Dolch in meine Seele, und immer wenn ich dich sehe, drehst du ihn noch ein Stück weiter, warum?«
»Kamil«, sagt sie.
»Du tötest mich, Julka«, sagt er.
»Was denkst du von mir? Dass ich mit allen ins Bett gehe und Kinder bekomme und dich anrufe und sage, es sind deine? Denkst du das? Wer ist nach Deutschland gekommen und hat seine Frau verschwiegen? Wer hat mit einer andern gelebt und seine Söhne verschwiegen? Etwa ich, Kamil?«
Jetzt wird Julka laut.
»Es ist deine Tochter! So wie Emine deine Tochter ist!«, ruft sie. »Was wirst du jetzt tun?«
»Nichts«, sagt er bitter, »frag doch den Vater von deinem Balg.«
»Ich frage den Vater! Jetzt grad sprech ich mit dem Vater!«
»Niemals!«, sagt er.
Julka klemmt das Telefon zwischen Ohr und Schulter, zündet sich eine Zigarette an. Dann winkt sie Andrusch, er soll kommen und ihr schnell was zu trinken geben. Er schenkt ihr ein Wasserglas ganz voll mit kroatischem Schnaps.
Sie trinkt alles auf einmal.
Das Glas fällt zu Boden, als sie es abstellen will, und zerbricht in tausend Splitter.
Dann wischt sie sich den Mund ab, holt tief Luft und sagt ganz ruhig auf Deutsch zu Kamil:
»Wenn du wirklich glaubst, was du gerade gesagt hast, dann ist deine Tochter für dich gestorben.«
Langsam legt sie den Hörer auf die Gabel, steckt die Zigarette zwischen die Lippen und holt den Mülleimer aus dem Schrank unter der Theke. Sie sammelt die Glasscherben ein, fegt sorgfältig die Splitter zusammen und geht nach draußen zum Container. Sie öffnet ihn, schüttet die Scherben klirrend hinein und schließt ihn mit einem Ruck. Die Zigarette hat sie die ganze Zeit zwischen den Lippen behalten, jetzt spuckt sie die Kippe aus. Ganz kurz schaut sie nach oben, zum Mond. Drinnen weint Marina leise in ihrem Körbchen.
Als das Kind nicht mehr aufhört zu weinen, begleitet Andrusch sie in die Klinik.
»Leistenbruch«, sagt die Ärztin, und »hierbleiben«.
Dann darf Julka nicht zu Marina.
»Sie können die Milch zu Hause abpumpen«, sagt man ihr an der Pforte, aber zu Marina darf sie nicht. »Das ist nicht üblich – hier in Deutschland.«
Frau Weigand vom Jugendamt kommt und sagt Wörter wie Aufenthaltsstatus, Mangelernährung und Kindeswohl. Sie sagt Wörter wie Vormundschaft. Pflegefamilie.
Und Sorgerechtsentzug.
Julka schlägt sie später nach, im Gespräch versteht sie nicht, was Frau Weigand ihr sagt. Auch, weil sie es nicht verstehen will.
Kein Vater mehr für ihr Kind, kein Kind mehr für eine Mutter, keine Mutter mehr für ihre Kinder?
Sie hat eine Arbeit. In der Skischuhfabrik. Fragen Sie doch bei Frau Jost. Sie hat eine Aufenthaltserlaubnis, eine unbefristete. Sie darf in Deutschland bleiben und sie will Marina behalten, nicht auch noch weggeben wie Tanja.
Frau Weigand schaut skeptisch, was, wenn Marina älter wird?
»Ich finde schon was«, sagt Julka, »ich finde mich immer zurecht.«
Jeden Tag holt Andrusch sie bei der Arbeit ab, fährt sie zur Klinik und wartet, während sie die Fläschchen abgibt. Er sieht sie gestikulieren, hört sie schimpfen, fegt vor ihrer Haustür ihre Zigarettenstummel zusammen und sagt manchmal zu ihr: »Du hast noch ein anderes, vergiss das nicht.«
Er kauft für sie ein und kocht, manchmal isst sie sogar davon. Manchmal macht sie Witze über ihre Dummheit mit Kamil, dann sagt sie, wie bescheuert sie gewesen ist. Andrusch hört darüber hinweg, und bald lässt sie die Witze bleiben.
Sie kann ihr linkes Auge rollen lassen, mit Absicht. Wenn sie das macht, ist Andrusch zufrieden, dann weiß er, dass sie sauer wird. Wenn sie lacht, macht sie ihm mehr Angst.
Manchmal schiebt er sie unter die Dusche und wartet draußen. Nur weinen sieht er sie nie.
Die Operation hilft nicht, die Medikamente nicht, überhaupt nichts.
»Was machen wir mit diesem Kind?«, fragt die Ärztin, wenn Frau Weigand vorbeikommt, um nach Marina zu sehen.
»Schwieriger Fall«, sagt Frau Weigand, »wir wissen nicht, was wir tun sollen. Die Mutter kommt aus Jugoslawien, sie hat Arbeit, sie will nicht zurückgehen.«
Die Ärztin sagt: »Eine Pflegefamilie? Was ist damit?«
»Haben wir in Erwägung gezogen, aber mit der Zustim mung der Mutter ist nicht zu rechnen, sie denkt, es geht so.«
»Das Kind braucht klare Verhältnisse.«
Marina liegt mit ihren großen schwarzen Augen und den langen schwarzen lockigen Haaren ganz ruhig in ihrem Bettchen.
Die Ärztin bestellt Julka in die
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