Suna
Unfall gehört hat. Sie wimmelt ihn ab, aber er bleibt im Treppenhaus stehen und ruft durch die geschlossene Tür, dass sie jederzeit zu ihm kommen könne, wenn sie Hilfe braucht, er sei für sie da – egal, was Kamil gesagt oder getan hat, sie sei wie eine Schwester für ihn und ob sie schon wisse, dass er, Do ğ an, jetzt zwei Söhne hätte?
Brut, denkt sich Julka, und dass sie ihre Töchter fernhalten muss von denen, nicht dass die auf dumme Gedanken kommen und Cousinen und Cousins verheiraten wollen miteinander.
»Ich will dich nie mehr sehen«, schreit sie hinaus, »scher dich zum Teufel mit deinen Söhnen und Brüdern, verpiss dich und lass dir nicht einfallen, hier wieder aufzukreuzen. Niemals wieder will ich den Namen deines Bruders hören, niemals wieder!«
Julka wird ihr ganzes Leben lang nicht vergessen, Tanja vor dem Onkel und den Cousins zu warnen. »Nicht dass du mir einen von denen heimbringst«, wird sie sagen, so lange, bis Tanja ziemlich genervt mit den Augen rollt.
Andrusch kann noch lange nicht nach Hause.
»Es gibt einen neuen Pächter für Andruschs Kneipe«, sagt der Besitzer im Herbst. »Ich kann nicht länger warten, wer weiß, wann dein Andrusch zurück ist.«
Julka will es Andrusch nicht sagen.
Sie sitzt alleine in der Küche ihrer kleinen gemeinsamen Wohnung, die sie einst mit Kamil geteilt hat. Sie sitzt am Tisch und schiebt die Post hin und her, die sie nicht mehr geöffnet hat seit wer weiß wie lange.
Sie kann Schwester Bonifazia nicht mehr in die Augen sehen, weil sie ja weiß, dass es immer eine Lüge war. Jetzt glaubt sie selbst nicht mehr, dass es irgendwann wahr gewesen ist, ihr gemeinsames »nächsten Monat«.
Was wird nur werden, denkt sie.
Was wird nur aus Marina, meinem Mädchen, das mich bald nicht mehr erkennt?
Und was, nur was mache ich mit dem neuen Kind, das da wächst.
Und als sie fast eine ganze Woche darüber nachgedacht hat, geht sie zu Frau Weigand und sagt: »Ist gut, die fremde Frau soll das Kind ganz behalten.«
Und sie lernt ein neues Wort, das heißt Adoption.
»Für ein Jahr wird Marina ein Pflegekind bleiben, solange können Sie sich noch anders entscheiden«, sagt Frau Weigand.
»Erst dann ist sie weg?«
»Erst dann«, sagt Frau Weigand (die ein bisschen aufatmet, dass wenigstens für Marina nun alles in Ordnung kommt, wenigstens für eines dieser bald drei Kinder).
Julka kümmert sich nicht um die Feinheiten der deutschen Paragraphen. Julka unterschreibt Papiere.
Nirgendwo sagt sie ein Wort von Kamil, das gönnt sie ihm nicht, dass er namentlich erwähnt wird. Stattdessen sagt sie überall »Vater unbekannt« und muss dann doch zugeben, dass er Türke ist, weil ein deutscher Vater »eine andere Rechtslage« für das Amt wäre, so hat sie es jedenfalls verstanden.
Frau Weigand dankt ihr »von ganzem Herzen« und sagt, sie habe weitsichtig und klug gehandelt.
Aber es ist nicht klug, sondern aus Liebe.
Weil Julka ja sieht, zu wem Marina Mama sagt.
Und zu wem nicht.
Ihr Sohn wird geboren, und Andrusch kann mit dem Rollstuhl auf die Entbindungsstation kommen.
»Wir können hier wohnen«, sagt er grinsend, mit dem Baby auf dem Arm.
»Bloß nicht«, sagt Julka und denkt mit Schaudern an ihre erste Arbeit in Deutschland zurück.
Als Andrusch entlassen wird, kann er sich alleine vom Sofa zum Bett bewegen.
»Den Arsch putz ich dir nicht«, sagt Julka.
»Bloß nicht«, sagt Andrusch.
Aber eine Arbeit kann er nicht mehr annehmen, die Kneipe zurückzubekommen ist mindestens für die nächste Saison aussichtslos. Vielleicht, wenn Julka als Pächterin einspringt, das könnte man überlegen.
»90 Prozent behindert«, liest er aus seinen Unterlagen vor.
»Schwerbehindert«, korrigiert ihn Julka und stellt die Fläschchen vor ihn hin, die er im Laufe des Tages dem Kleinen geben soll, bis sie wieder zurück ist von ihrer Schicht, und legt die Windeln zurecht, die er brauchen wird für das Kind.
Um die Mädchen zu besuchen, nehmen sie immer noch den Bus, nichts hat sich geändert. Nur Marinas Pflegevater ist seit kurzem auffallend oft zu Hause, und die Fremde schenkt Kaffee ein, der am Morgen zuletzt frisch gewesen ist.
Doch, alles in Ordnung, was soll schon sein? Hat Urlaub, der Mann, kann man ja mal zwischendurch nehmen, oder nicht.
Zur selben Zeit trägt Magdalena ein handgenähtes Kostüm und Johannes seinen maßgeschneiderten grauen Anzug. So sitzen sie in der Kreisstadt, in einem kleinen überheizten Zimmer, das mit Schreibtisch,
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