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Suna

Suna

Titel: Suna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ziefle Pia
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»Merk dir das.«
    Ich vergaß es wieder, seinen Zorn aber habe ich nicht vergessen, und ein kleiner Teil davon wurde auch zu meinem Zorn über einen Mann, von dem ich nichts weiter wusste, als dass er ein winziges Spermium zu meiner Existenz beigesteuert hatte.
    Zu Beginn meines letzten Schuljahres ging Tom nach London, um zu studieren, und ich kiffte mir die Lücke klein, die er hinterließ. Wir schrieben noch ab und zu, er besuchte mich ein paar Mal, aber es fielen uns keine neuen Sätze mehr ein, die wir benutzen konnten.
    Stattdessen begann ich, die Vorgänge um mich herum in ihre Einzelteile zu zerlegen, nahm »Schule« wahr als die Summe des Handelns dankbarer Kleingeister, die nicht in der Lage waren, ohne das Diktat festgeschriebener Uhr­zeiten und Orte Bücher aufzuschlagen und schlussendlich inhaltsleere Sätze in farblich unterschiedene Hefte zu ergießen. Wie sollten sie auch Relevantes beizutragen haben, wenn das, was sie »Leben« nannten, zwischen Schreibtisch und Schulbank, Chorprobe und Hebräisch- AG stattfand.
    Ach, und Beziehungen hatten sie! Schüchterne kleine Beziehungen auf Picknickdecken, die Schulbücher auf den Knien, nie ohne den anderen anzutreffen, aneinanderklebend wie Nukleonen in einem Atomkern.
    Da half auch kein Beschuss mit Vernunft, mit Logik und Ratio, vergeblich, mich mit ihnen über den Unsinn einer Konzeption wie »Liebe« auseinanderzusetzen, vergeblich auch sonst meine Bemühungen um Erkenntnisgewinn unter Gleichaltrigen, allein schon die Themen waren mir fremd und den anderen meine Platten und Bücher.
    Aber nichts, nichts davon konnte ich verwenden, wenn ich in den Ferien »nach Hause« fuhr und Johannes sitzen sah, auf demselben Platz, den er als kleiner Junge schon innegehabt hatte, auf denselben Kissen wie damals, brav den Teller leer essend, den Irma ihm strahlend und reichlich aufgetan hatte.
    Nichts davon war mir nützlich, wenn ich bei Magdalena saß, am Küchentisch aus Resopal, dessen Muster aus kleinen grauen Linien Erinnerungen an den Geruch von kaltem Mittagessen wachriefen, weil ich lange Nachmittage hinter unberührten Tellern gesessen hatte als Kind.
    Irgendwo jetzt ein verdammtes Radio voller Balkan, viel zu laut. Ja, weißt du denn nichts über Sarajevo?, sagte Magdalena entsetzt, du musst das wissen!
    Sarajevo war eine unscharfe Schwarz-Weiß-Erinnerung im Fernsehen, die mit Skispringen zu tun hatte und mit Salzstangen in mittelhohen bierflaschenfarbenen Trinkgläsern.
    Du musst dich interessieren, gerade du, sie lassen da sogar Kinder verrecken! Sagte sie so, und wie sie es sagte, klang es, als würde ich etwas damit zu tun haben, weil ich dort herkam und, vor allem, weil ich nichts wissen wollte davon.
    Mir egal, sagte ich und schob beim Mittagessen meine Bohnen quer durch die Gulaschsoße an den Rand meines Tellers.
    Die haben nichts zu fressen da, sagte Magdalena schneidend, die verrecken in ihren Bunkern, und ich nahm meinen Teller und stand auf, um hinauszugehen, irgendwo­hin, weil der Ton dieser Worte, dieser NichtMagdalenaWorte, in mir ein nebeliges Grauen auslöste. Wo willst du jetzt hin, sagte sie, und ich sagte kühl, das Gulasch einpacken, für die Kinder, ich denk, die haben da nichts.
    Mit Belagerung und Krieg hatte ich nicht gerechnet und genügend zu kämpfen mit meinem paradoxen Wunsch, für immer mit der Küche, die mich umgab, zu verschmelzen und gleichzeitig so schnell wie möglich wieder verschwinden zu können. Zu entkommen aus den Erwar­tungs­feldern meiner lebensdurchtrauerten Eltern und einmal, nur einmal nicht den Entertainer geben zu müssen, damit es leichter wurde, damit sie lächeln konnten über meine Eskapaden oder wenigstens den Kopf schütteln über ihr merkwürdiges Kind.
    Zur Abiturfeier lud ich sie gar nicht erst ein.
    Natürlich hätte auch ich gern Eltern gehabt, die mich am letzten Tag stolz zum Direktor begleiten, um mein Zeugnis entgegenzunehmen, und eine Mutter hätte ich mir gewünscht, die mir mein Lieblingsessen kocht, wenn ich abends nach Hause komme. Niemals wäre ich jedoch in der Lage gewesen, das zuzugeben, und noch weniger hätte ich zugeben können, dass ich beim Zusammenpacken meiner wenigen Sachen auf einen Zettel gestoßen war mit einer Adresse drauf, den ich seither in meiner Hosentasche mit mir herumtrug und ihn hütete wie Gollum seinen Ring.
    Zeljko hat in seiner Druckerei einen Job für mich gefunden, weil ich nicht studieren wollte, und so fand ich mich im Herbst ’93 zwischen wortkargen

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