Suna
wieder auf die Geburtszeitfrage zurück und so überreichte mir Johannes bei einem meiner sehr seltenen Besuche tatsächlich eines Tages eine Mappe mit dem Adoptionsvertrag. Und meiner Geburtsurkunde. Marina Lukic stand darauf, und im Feld für die abgebenden Eltern: Julka Lukic, Vater unbekannt. Ich musste hinnehmen, dass weder Johannes noch Magdalena mir die Wahrheit gesagt hatten (»Wir sagen dir alles was wir wissen, Kind«), obwohl sie beide beteuerten, nichts von dem Namen und schon gar nichts von der Adresse meiner leiblichen Mutter gewusst zu haben, die nämlich ebenfalls deutlich lesbar im Vertrag stand.
Ich hatte einen neuen Namen bekommen, aber damals war mir die Tragweite dieser Entscheidung meiner Eltern nicht klar. Es war nur ein weiteres Puzzleteil in meinen ersten fragmentierten Jahren. Erst als ich selbst Kinder hatte und mit eigenen Augen sehen konnte, wie sehr sie hineinwachsen in ihre Umgebung – und in den Klang ihres Namens –, wurde mir bewusst, was der Namenswechsel für mich damals bedeutet haben muss.
Meine Geburtszeit blieb weiterhin im Dunklen.
Schade, sagte Tom. Aber jetzt können wir wenigstens mal deine Mutter besuchen.
Aber ich schloss die Mappe in meinem Schreibtisch ein.
Nichts an dem, wie es war, sollte verändert werden, und schon gar nicht wollte ich selbst verantwortlich sein, falls doch. Dass ich beim Einwohnermeldeamt angerufen hatte, um herauszufinden, dass Julka Lukic eine neue Adresse hatte, sagte ich niemandem. Aber ich notierte sie mir auf einem kleinen, quadratischen Zettel.
Tom und ich hörten jetzt Can und sprachen über die Schule und das Abitur, das er bald hinter sich haben würde, und was es für uns »so als Paar« bedeuten könnte – käme da eine neue Phase? Ein neuer Level, sagten wir lachend und retteten uns manchmal vor Toms Computer, da gab es Lands of Lore und klar definierte Questbäume.
Wir lagen noch für eine Weile in unserer Hütte oder gingen in die Stadt zum türkischen Imbiss von Selim, besonders an den Tagen, an denen es in der Schule Kartoffelgratin gab.
Ich war gern bei Selim. Er hatte immer Stühle für uns im Hinterzimmer, die er holte, wenn die gewöhnlichen Plätze besetzt waren. Es gab Tee aus dem Samowar zu trinken und immer eine Runde Backgammon. Er ließ mich in Ruhe und stellte nur wenige Fragen.
Sowieso war ich lieber für mich, wenn Tom keine Zeit hatte, als mit den anderen zusammen. Zu viele Menschen in einem Raum machten mir schon immer zu schaffen. Wenn sie durcheinanderredeten, war es beinahe unmöglich für mich, mich selbst noch zu spüren, ihre Stimmen erlebte ich als körperlichen Schmerz. Bekifft ließ sich das gleich viel besser an, aber um immer breit zu sein, reichte schlichtweg mein Geld nicht.
Für gewöhnlich trafen wir uns bei Selim mit Zeljko, der zuverlässig war und gute Preise für sein Gras machte.
Zeljko nannte mich sestra und sagte irgendwann, er wäre Drucker und käme aus Split. Ich lachte und sagte: »Ich kenn nur Bananensplit«, aber er lachte nicht mit, sondern sagte: »Ich bin aus Split, und du bist doch auch Kroatin.«
»Ich bin deutsch«, sagte ich, »du irrst dich.«
»Ach Quatsch«, sagte er dann und nahm mich mit zu seinen Freunden und einmal auch auf ein Konzert. Ich hatte mich mit Händen und Füßen gesträubt, weil ich Angst hatte vor den Menschen im Publikum.
»Du packst das«, sagte er, »du musst es versuchen. Das ist das Leben.«
Ich packte es nicht.
Es herrschte drangvolle, verqualmte Enge.
»Rauch was«, rief er und wollte mir seinen Joint geben.
»Ich geh raus«, rief ich zurück, und so machten wir es dann meistens. Ich begleitete ihn auf Konzerte und wartete draußen (die Bands waren fast immer laut genug). Alle waren zufrieden, denn auf diese Weise hatten sie immer eine nüchterne Fahrerin.
Kaurismäki musste Kusturica weichen und Zeljkos Freunde tranken und sangen die Lieder mit und benahmen sich wie die Männer im Film, die sich benahmen wie Männer in Kroatien (oder Serbien?).
Ihr habt irgendwie von allem zwei, sagte ich, und war neidisch, weil sie in meinen Augen Serben oder Kroaten waren und nur zusätzlich in Deutschland lebten. Sie wiederum sagten, ihre Eltern hätten alles in Jugoslawien zurückgelassen und sie selbst säßen hier mit nichts und nur die Großeltern wären noch richtige Serben. Oder Kroaten.
Sie hätten ihre Sprachen und meine, hielt ich dagegen, sie hätten ihre Heimat und Deutschland.
Und wenn das noch nicht reicht, sagte ich, und das
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