Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
Westen und direkt über ihnen rissen die Wolken mit tropischer Plötzlichkeit auf und ließen das trübe Nebelgrau in blendendem Weiß erstrahlen. Sonnenfinger betupften den Strand mit Lichtinseln; Em lief mit einem einzigen Satz in eine von ihnen hinein und wieder hinaus und fühlte die Temperatur mit einem neuerlichen Hauch von Schwüle erst ansteigen und dann wieder abfallen, als der Nebel sie abermals umfing. Es war, als liefe man an einem kalten Tag an der offenen Tür eines Waschsalons vorbei. Vor ihr öffnete sich ein längliches Katzenauge von dunstigem Blau. Ein doppelter Regenbogen entsprang ihm, jede Farbe deutlich ausgeprägt und leuchtend. Die westlichen Beine tauchten in den wabernden Nebel und badeten im Wasser; die, die sich zum Festland hinabbogen, verschwanden in den Palmen und Geigenholzbäumen.
Ihr rechter Fuß schlug gegen den linken Knöchel, worauf sie ins Stolpern kam. Fast wäre sie der Länge nach hingeschlagen, dann fand sie ihr Gleichgewicht wieder. Doch nun war er nur noch dreißig Meter hinter ihr, und dreißig Meter war zu nah. Schluss mit der Regenbogenschau.Wenn sie sich nicht auf das Wesentliche konzentrierte, würden die da oben ihre letzten sein.
Sie blickte wieder nach vorn, und auf einmal war da ein Mann, der knöcheltief in der Brandung stand und zu ihnen herüberstarrte. Er trug nichts als ein Paar abgeschnittene Jeans und ein triefnasses rotes Halstuch. Seine Haut war braun, Haar und Augen dunkel. Er war klein, aber stämmig und muskulös. Er kam langsam aus dem Wasser, und sie konnte die Besorgnis in seiner Miene sehen. Gott sei’s gedankt, sie konnte die Besorgnis sehen.
»Hilfe!«, schrie sie. »Helfen Sie mir!«
Die Besorgnis in seiner Miene nahm zu. »Señora? Qué ha pasado? Qué es lo que va mal?«
Sie konnte ein bisschen Spanisch – ein paar Brocken jedenfalls -, als sie nun aber seines hörte, fiel ihr kein Wort mehr ein. Egal. Es war sicher einer der Gärtner von einem der großen Anwesen. Er hatte die Regenpause genutzt, um sich im Meer abzukühlen. Er mochte keine Greencard besitzen, aber um ihr das Leben zu retten, brauchte er auch keine. Er war ein Mann, er war offensichtlich stark, und er war bereit zu helfen. Sie warf sich ihm in die Arme und spürte, wie das Wasser an seinem Körper ihr Hemd durchnässte.
»Er ist verrückt!«, schrie sie ihm ins Gesicht; sie waren fast genau gleich groß. Und nun fiel ihr wenigstens ein spanisches Wort wieder ein. In dieser Situation ein wertvolles, dachte sie. »Loco! Loco, loco!«
Der Bursche drehte sich um, den einen Arm fest um sie geschlungen. Emily blickte in die gleiche Richtung wie er und sah Pickering. Pickering grinste. Es war ein lässiges, irgendwie entschuldigendes Grinsen. Selbst das Blut auf seinen Shorts und seinem verschwollenen Gesicht ließ das Grinsen nicht ganz unglaubwürdig wirken. Und von der Schere war nichts mehr zu sehen, das war das Schlimmste. Seine Hände – die Rechte mit der dunklen, eingetrockneten Stichwunde zwischen Zeige- und Mittelfinger – waren leer.
»Es mi esposa«, sagte er. Sein Tonfall war ebenso entschuldigend – und überzeugend – wie sein Grinsen. Selbst dass er keuchte, schien in Ordnung zu sein. »No te preocupes. Ella tiene …« Sein Spanisch ging ihm aus oder schien ihm auszugehen. »Probleme? Sie hat Probleme?«
Verständnis und Erleichterung leuchtete in den Augen des Mexikaners auf. »Problemas?«
»Sí«, stimmte Pickering zu. Dann hob er mit einer Geste, als nähme er einen Schluck, eine Hand zum Mund.
»Ah!«, sagte der Mexikaner und nickte. »Trinke!«
»Nein!«, schrie Emily. Sie spürte, dass der Bursche drauf und dran war, sie in Pickerings Arme zu schubsen, um dieses unerwartete problema, diese unerwartete señora, loszuwerden. Sie hauchte ihm ins Gesicht, um zu beweisen, dass ihr Atem nicht nach Alkohol roch. Dann kam sie auf eine Idee und tippte an ihre geschwollene Lippe. » Loco! Er hat das getan!«
»Ach was, Kumpel, das war sie selbst«, sagte Pickering. »Okay?«
»Okay«, sagte der Mexikaner und nickte, schubste Emily nun aber doch nicht auf Pickering zu. Er wirkte unentschlossen. Und nun fiel Emily noch ein Wort ein, wohl ein Überbleibsel aus irgendeiner Kindersendung, die sie angeschaut hatte – wahrscheinlich mit der treuen Becka -, wenn sie nicht gerade Scooby-Doo schaute.
»Peligro«, sagte sie, und zwang sich, nicht zu schreien. Schreien war, was verrückte esposas taten. Sie blickte dem Mexikaner eindringlich in die Augen.
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