Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
immer einen Schauer den Rücken hinunterjagte. Wie viele der Kinder auf diesen Fotos waren schon in der feuchten, sandigen Erde der Everglades verbuddelt oder von Alligatoren verspeist worden? Wie viele von ihnen wuchsen in dem Glauben auf, dass die Landstreicher, die sie aus dem Kinderwagen gerissen hatten (und von denen sie von Zeit zu Zeit missbraucht oder gegen Geld an andere Kinderschänder verliehen wurden), ihre Mütter und Väter waren? Dykstra gefiel es überhaupt nicht, wie sie ihn aus offenen, unschuldigen Augen ansahen. Schon gar nicht wollte er über die Verzweiflung nachdenken, die sich hinter den absurd hohen Belohnungen verbarg – 10 000 Dollar, 20 000, 50 000, in einem Fall sogar 100 000 (für ein lächelndes Mädchen mit flachsblondem Haar aus Fort Myers, das 1980 verschwunden war, inzwischen eine junge Frau, wenn sie denn noch lebte … was äußerst unwahrscheinlich war). Auf einem Schild stand, dass es verboten sei, die Mülleimer zu durchwühlen, auf einem anderen, dass man sich auf dem Rastplatz nicht länger als eine Stunde aufhalten dürfe – DIESE ANLAGE STEHT UNTER POLIZEIAUFSICHT.
Wer wollte sich hier schon länger aufhalten?, dachte Dykstra und lauschte dem Nachtwind, der durch die Palmen rauschte. EinVerrückter, sonst niemand. Jemand, für den ein roter Knopf im Laufe der Monate und Jahre immer einladender aussah, während morgens um eins draußen die Sattelschlepper vorbeidonnerten.
Er wandte sich der Herrentoilette zu, blieb jedoch wie angewurzelt stehen, als er hinter sich eine Frauenstimme hörte, vom Echo leicht verzerrt, aber erschreckend nahe.
»Nein, Lee«, sagte sie. »Bitte, Schatz, nicht.«
Es folgten ein Klatschen und gleich darauf ein dumpfer, fleischiger Schlag. Dykstra begriff sofort, dass er Zeuge einer Misshandlung wurde – nichts wirklich Außergewöhnliches. Er konnte direkt sehen, wie sich auf der Wange der Frau eine rote Hand abzeichnete, wie ihr Kopf, kaum von ihrem Haar (war es blond? dunkel?) geschützt, von der Wand abprallte. Sie fing an zu weinen. Das Licht von draußen war so hell, dass Dykstra sehen konnte, wie er auf den Armen eine Gänsehaut bekam. Er biss sich auf die Unterlippe.
»Mieses Flüttchen.«
Lees Stimme klang monoton, bedeutungsvoll. Schwer zu sagen, woher Dykstra sofort wusste, dass der Mann betrunken war, denn jedes Wort war deutlich ausgesprochen worden.Aber er wusste es einfach, er hatte dergleichen nämlich schon öfter gehört – in Baseballstadien, auf dem Rummelplatz, manchmal in einem Motel durch die dünne Wand hindurch (oder durch die Decke), spätnachts, nachdem der Mond bereits untergegangen war und die Bars geschlossen hatten. Die weibliche Hälfte der Unterhaltung – konnte man das überhaupt eine Unterhaltung nennen? – mochte in manchen Fällen ebenfalls betrunken sein, aber meist klang sie schlichtweg verängstigt.
Dykstra stand noch immer in dem kleinen Eingangsbereich, vor sich die Herrentoilette, im Rücken die Damentoilette mit dem Paar. Obwohl die Bilder der vermissten Kinder hell erleuchtet waren, stand er selbst im Dunkeln. Die Poster raschelten wie Palmwedel leise im nächtlichen Wind. Er wartete einen Moment, in der Hoffnung, dass es nicht weitergehen würde. Aber natürlich ging es weiter. Die Worte irgendeines Country-Sängers kamen ihm in den Sinn, völlig unsinnig, aber bedeutungsschwer: »Bis ich herausfand, dass ich nichts taugte, war ich schon zu reich, um aufzuhören.«
Ein weiteres fleischiges Klatschen, und die Frau schrie abermals auf. Kurzes Schweigen, dann die Stimme des Mannes, der offenbar nicht nur betrunken, sondern auch ungebildet war; seine Aussprache verriet ihn – wie er Flüttchen statt Flittchen sagte. Dykstra wusste gleich alles Mögliche über ihn: dass er im Englischunterricht auf der Highschool immer ganz hinten gesessen hatte, dass er die Milch direkt aus der Tüte getrunken hatte, wenn er nach der Schule nach Hause gekommen war, dass er in der zehnten oder elften Klasse von der Schule abgegangen war, dass er sein Geld mit Jobs verdiente, bei denen er Arbeitshandschuhe trug und immer ein Cuttermesser in der Gesäßtasche stecken hatte. Eigentlich sollte man nicht derart verallgemeinern – das war so, als behauptete man, alle Afroamerikaner hätten Rhythmus im Blut und alle Italiener würden in der Oper weinen -, aber hier, im Dunkeln, nachts um elf, von Bildern vermisster Kinder umgeben, die aus irgendeinem Grund immer auf rosafarbenem Papier gedruckt waren, als wäre das
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