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Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset

Titel: Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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herabhängendem Hosenboden im nassen Sand buddelten. Mütter in Badeanzügen, die sie aus dem Katalog von Land’s End bestellt hatten, gingen mit weißen Klecksen Sonnencreme auf der Nase neben ihnen her. Wie viele Kinder jenes Tages hatten eine sie behütende Mama oder einen frisbeewerfenden Dad verloren? Mann, das war eine Rechenaufgabe, die ich nicht zu lösen versuchen wollte. Aber die Stimmen, die ich in meiner Wohnung hörte, wollten sie lösen. Sie versuchten es immer wieder.
    Ich erinnerte mich, wie Bruce Mason auf seiner Schneckenmuschel geblasen und sich zum Herrn der Fliegen ausgerufen hatte. Ich erinnerte mich, wie Maureen Hannon mir einmal erklärt hat (nicht in Jones Beach, nicht bei dieser Gelegenheit), Alice im Wunderland sei der erste psychedelische Roman gewesen. Und wie Jimmy Eagleton mir eines Nachmittags erzählt hat, sein Sohn sei nicht nur Stotterer, sondern leide auch an Lernschwäche, zwei zum Preis von einem, und der Junge werde einen Nachhilfelehrer für Mathe und einen weiteren für Französisch brauchen, um in absehbarer Zukunft die Highschool absolvieren zu können. »Bevor er Anspruch auf den Seniorenrabatt für Schulbücher hat«, wie Jimmy es ausgedrückt hatte. Seine Wangen waren in der schrägen Nachmittagssonne blass und ein wenig stoppelig, als wäre sein Rasierer an diesem Morgen stumpf gewesen.
    Ich war allmählich in Schlaf abgedriftet, aber das ließ mich schlagartig wieder hellwach werden, weil mir klarwurde, dass dieses Gespräch nicht lange vor dem 11. September stattgefunden haben musste.Vielleicht nur wenige Tage davor.Vielleicht sogar am Freitag davor, das heißt am allerletzten Tag, an dem ich Jimmy lebend gesehen habe. Und der kleine Scheißer, der stotterte und lernschwach war: Hatte er tatsächlich Jeremy geheißen, wie Jeremy Irons? Bestimmt nicht, sicher war das nur mein Verstand (manchmal nimmt-a de Banana), der seine Spielchen trieb, aber sein Name hat bei Gott ähnlich geklungen. Vielleicht Jason. Oder Justin. In den ersten Morgenstunden wirkt alles übersteigert, und ich weiß noch, wie ich mir überlegte, dass ich wahrscheinlich überschnappen würde, wenn sich herausstellte, dass der Junge tatsächlich Jeremy hieß. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, Baby.
    Gegen drei Uhr morgens fiel mir ein, wem der Plexiglaswürfel mit dem eingegossenen Centstück gehört hatte: Roland Abelson aus der Haftpflichtabteilung. Er nannte es seinen Pensionsfonds. Es war Roland gewesen, der oft gesagt hatte: »Lucy, jetzt sind ein paar Erklärungen fällig.« Eines Abends im Herbst 2001 hatte ich seine Witwe in den 18-Uhr-Nachrichten im Fernsehen gesehen. Ich hatte mich bei einem der Firmenpicknicks (sehr wahrscheinlich bei dem in Jones Beach) mit ihr unterhalten und sie hübsch gefunden, aber die Witwenschaft hatte diese Hübschheit verfeinert, sie in wirkliche Schönheit verwandelt. In der Nachrichtensendung bezeichnete sie ihren Mann stets nur als »vermisst«; sie weigerte sich, ihn als »tot« zu bezeichnen. Und wenn er überlebt hatte – wenn er jemals wieder auftauchte -, würden ein paar Erklärungen fällig sein. Garantiert. Aber natürlich auch von ihrer Seite. Eine hübsche Frau, die sich als Ergebnis eines Massenmords in eine Schönheit verwandelt hat, würde bestimmt einiges erklären müssen.
    Im Bett zu liegen und an dieses Zeug zu denken – mich ans Donnern der Brandung in Jones Beach und die unter dem Himmel fliegenden Frisbees zu erinnern -, erfüllte mich mit schrecklicher Traurigkeit, die sich zuletzt in Tränen Bahn brach. Aber ich muss gestehen, dass das eine lehrreiche Erfahrung war. Dies war die Nacht, in der ich verstehen lernte, dass Dinge – sogar Kleinigkeiten wie ein Centstück in einem Plexiglaswürfel – im Lauf der Zeit schwerer werden können. Aber weil dieses Gewicht auf dem Verstand lastet, gibt es dafür keine mathematische Formel von der Art, wie man sie in den Risikotabellen von Versicherungen finden kann, nach denen die Prämien jemandes Lebensversicherung sich um x erhöhen, wenn man Raucher ist, und die für jemandes Ernteausfallversicherung um y , wenn die Farm desjenigen in einer Tornadozone liegt. Ist es verständlich, was ich damit meine?
    Eine schwere Last auf dem Verstand.
     
    Am folgenden Morgen sammelte ich wieder alle Dinge ein und fand dabei ein siebtes, diesmal unter der Couch. Der Typ einen Schreibtisch weiter, Misha Bryzinski, hatte zwei Puppen – Punch und Judy – auf seinem Schreibtisch stehen

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